Ausland01. Februar 2022

Für eine politische Lösung der Krise

Interview mit Dr. Feisal Mekdad, Außenminister der Syrischen Arabischen Republik

von Karin Leukefeld, Damaskus

Es war 2012/13, als ich die Möglichkeit hatte, Sie als Vize-Außenminister zu interviewen. Thema war damals der beginnende Krieg und ich fragte Sie, ob die Entwicklung in Syrien vergleichbar sei mit der Entwicklung in Europa nach dem 2. Weltkrieg. Die Politik des »Eisernen Vorhangs« sollte die Sowjetunion isolieren, es entstanden zwei deutsche Staaten. Ich möchte ihnen heute die Frage erneut stellen: Wird es eine Mauer durch Syrien, wird es eine Spaltung durch die Region in Ost und West geben?

Nein. Natürlich gibt es eine Spaltung zwischen West und Ost, das ist ganz klar. Der britische Poet Rudyard Kipling sagte einmal: »Der Osten ist der Osten und der Westen ist der Westen. Und beide werden niemals zusammenkommen.« Ich bin nicht so pessimistisch wie er. Ich mag keine Mauern und hoffe, daß niemand kommt, um uns einzumauern. Interne Mauern in Syrien wird es nie geben, die Gesellschaft wird das nie akzeptieren.

Allerdings versuchen einige ausländische Mächte tatsächlich Mauern in unserem Land zu errichten. Sehen wir uns nur mal an, was die Türkei macht.  Ihr Handeln ist gefährlich und absolut unakzeptabel. Genauso unakzeptabel ist, was die Amerikaner im Nordosten des Landes machen. Sie versuchen den Eindruck zu erwecken, als wollten sie dort einen neuen Staat auf syrischem Territorium errichten. Das wird nicht geschehen, aber sie sorgen für Probleme. Sie unterstützen dort Milizen und zögern damit eine politische Lösung der Krise hinaus, die wir anstreben. Aber wir sind sicher, daß die Amerikaner eines Tages abziehen werden.

Die Türkei unterstützt im Norden und Nordwesten Terrorgruppen. Sie bewaffnet sie und leistet jede Art von Unterstützung für Jabhat al Nusra und den »Islamischen Staat« und andere. Mehr als 100.000 Terroristen sind seit 2011 aus der Türkei über die Grenze nach Syrien gelangt. Die Türkei drosselt den Wasserdurchlauf des Euphrat, davon sind viele Gebiete in Syrien betroffen. Es gibt eine Vereinbarung zwischen der Türkei, Syrien und dem Irak, wonach die Durchlaufmenge des Euphratwassers nach Syrien 500 Kubikmeter Wasser pro Sekunde beträgt. Jetzt erhalten wir nur 200 oder 250 Kubikmeter. Das gefährdet die Entwicklung und die Landwirtschaft und zwar sowohl in Syrien als auch im Irak.

Die Türkei verhält sich im Norden Syriens wie eine Kolonialmacht. Sie versucht, das türkische Curriculum an den Schulen durchzusetzen, sie kidnappt geradezu die gedankliche Entwicklung unserer Kinder. Sie verhindert, daß die Kinder in die befreiten Gebiete Syriens gelangen können, um dort ihre Examen abzulegen. Die Türkei versucht, im Nordwesten einen kleinen Kolo­nialstaat zu etablieren. Das ist völlig unakzeptabel.

 

Wir wollen keine neuen Kriege

Elf sehr schwierige Jahre liegen hinter Syrien und natürlich akzeptieren Sie diese ausländische Anwesenheit nicht. Aber Syrien unternimmt militärisch auch nichts dagegen. Warum kämpft Syrien nicht gegen die türkische Armee und treibt sie zurück? Welchen Weg geht Syrien, um sich gegen die fremde Besatzung zu wehren?

Wir wollen keine neuen Kriege im Mittleren Osten auslösen, die nicht mehr aufhören. Für die syrische Führung ist die Einheit des Landes, dessen territoriale Integrität ein unantastbares Prinzip. Syrien wird nie aufhören, den Rückzug dieser beiden Mächte von syrischem Territorium zu fordern. Die Türken haben diese Region 500 Jahre lang regiert, aber schließlich sind sie abgezogen.

Und die Amerikaner waren in Afghanistan, sie waren in Vietnam, sie waren in so vielen Ländern der Welt, aber schließlich sind sie immer in ihr Land zurückgekehrt. Uns geht es darum, die Krise durch politische Diskussion und Dialog zu lösen. Dafür müssen wir alle friedlichen Mittel einsetzen. Wir wollen, daß nicht noch mehr unserer Infrastruktur zerstört wird. Und natürlich geht es um die Menschen, denn in allen Kriegen leiden die Menschen. Und es gibt Resolutionen des UNO-Sicherheitsrates, die jeder respektieren muß. Wir respektieren sie.

Vor zehn Jahren schlossen die EU-Länder ihre Botschaften und zogen ihr Personal aus Syrien ab, einschließlich aller Organisationen, die in Syrien erfolgreich für die Zusammenarbeit mit Syrien gearbeitet hatten. Gibt es Anzeichen, daß die EU ihr Verhalten gegenüber Syrien ändern wird?

Wir wollen, daß die EU sich ändert und einige EU-Länder haben sich auch schon geändert. Es gibt direkte politische Vertretungen von sechs Ländern in Damaskus. Sie sind hier. Und ihre Botschaften sind geöffnet und sehr aktiv. Wir sind mit ihnen in Diskussion. Natürlich haben wir auch Vertretungen in verschiedenen EU-Ländern. Unsere Botschaft in Paris ist weiterhin geöffnet. Unsere Botschaft in Berlin ist geöffnet. Selbst die Vertreter der Europäischen Union kommen täglich in unser Ministerium, um mit uns über die humanitäre Situation zu sprechen. Manchmal ergeben sich daraus auch politische Diskussionen.

Warum weiß kaum jemand, daß Botschaften von EU-Ländern in Damaskus wieder geöffnet haben?

Einige haben Angst vor anderen einflußreichen Ländern wie den USA, Frankreich oder anderen. Wir freuen uns, wenn sie zurückkehren und viele haben uns angesprochen und wir sind in Verbindung. Bis auf zwei, drei Länder, die einen harten Kurs verfolgen.

 

Die Sanktionen sind unmenschlich

Ziemlich zu Anfang des Konflikts – schon 2011 – verhängte die EU einseitige wirtschaftliche Strafmaßnahmen gegen Syrien. Diese wurden Jahr für Jahr verlängert und in der EU-Kommission scheint niemand daran zu denken, sie wieder aufzuheben. Welche Auswirkungen haben diese Sanktion in Syrien?

Die Sanktionen sind verheerend. Sie sind unmenschlich, sie sind unmoralisch, sie sind unakzeptabel. Weil sie die normalen Menschen treffen. Anders, als die EU immer vorgibt, kann Syrien keine direkten Finanzgeschäfte mit irgendwelchen Banken unternehmen. Wir können keine Medizin kaufen, keine Ersatzteile, nicht einmal Dünger können wir kaufen. Die EU erklärt, daß die Sanktionen die humanitäre Hilfe nicht beträfen.

Das Gegenteil ist der Fall. Sie betreffen hauptsächlich humanitäre Hilfsgüter. Und sie verhindern, daß selbst Unternehmen aus der EU und deren Partner Syrien und die Syrer erreichen können. Kürzlich gab es einige Erleichterungen seitens der USA, aber von der EU haben wir nichts dergleichen gesehen. Wir glauben nicht, daß die Völker Europas es zulassen wollen, daß so eine aggressive Politik fortgesetzt wird, die unschuldige Syrer, Kinder, Frauen, Schutzbedürftige tötet. Nur den schwachen Menschen schaden die Sanktionen, nicht dem syrischen Staat.

Diese Politik behindert ja auch Syrer, die ihre Heimat wegen des Krieges verlassen mußten und zurückkehren möchten…

Wenn diese Sanktionen weiterhin zur Verarmung des syrischen Volkes führen, warum sollten die Flüchtlinge nach Syrien zurückkehren wollen? Von unserer Seite begrüßen wir die Rückkehr aller Syrer, ohne irgendwelche Vorbedingungen. Um denen zu helfen, die zurückkehren wollen, versuchen wir mit internationalen Nichtregierungsorganisationen und den humanitären Organisationen der UNO zu kooperieren.

Es gibt Berichte, wonach die Rückkehrer nicht sicher sind.

Es gibt keine Maßnahmen gegen diejenigen, die zurückkehren. Wir sagen allen, die Probleme haben, die sie lösen können, daß sie kommen sollen. Präsident Assad hat eine Reihe von Dekreten erlassen, damit alle hinsichtlich politischer Gründe ohne Probleme zurückkehren können. Wenn gegen jemanden Strafverfahren laufen, wenn beispielsweise jemand seine Schwester getötet hat, sagen wir ihnen das. Wenn sie zurückkommen möchten, sollen sie kommen. Aber sie müssen sich dem Strafverfahren stellen. Alle Syrer außerhalb des Landes sind willkommen. Die EU-Propaganda, laut der die Bedingungen in Syrien eine Rückkehr nicht erlaubten, ist absurd.

Wir haben dem Hochkommissar der Vereinten Nationen vorgeschlagen, diesen Menschen zu helfen und ihnen einen einmaligen Geldbetrag zu geben, damit sie zurückkehren können. Das ist bei der Rückkehr in alle Länder der Welt so üblich, nur nicht im Fall Syriens. Sie geben den Rückkehrern nichts, weil die westlichen Länder, die Geberländer, nicht wollen, daß Rückkehrern dieses Geld erhalten. Aber alle Syrer, Flüchtlinge, Vertriebene sind in ihrer Heimat willkommen und ich möchte dieses Interview nutzen, um sie alle einzuladen, nach Syrien zurückzukehren.

 

»Brain-Drain«

Im Libanon gibt es rund 1 Millionen syrische Flüchtlinge. Sie sagen nun, Syrien sei mit verschiedenen Akteuren, einschließlich der UNO im Gespräch. Heißt das, daß eine Lösung für diese Menschen in greifbarer Nähe ist?

Fast 1,2 Millionen Flüchtlinge sind aus verschiedenen Ländern zurückgekehrt. Was andere seit zwei Jahren an der Rückkehr gehindert hat, ist das Corona-Virus. Das hat die Rückkehr von vielen beeinträchtigt. Wir sind mit Aufnahmeländern im Gespräch, um Möglichkeiten für die Rückkehr zu koordinieren. Aber was wir wirklich sehen wollen ist, daß die UNO die Menschen zur Rückkehr ermutigt. Wie ich schon sagte, wird die UNO von den westlichen Staaten, den Geberländern, kontrolliert. Diese wollen nicht, daß die Menschen zurückkehren. Und die Syrer im Libanon beispielsweise haben Angst, die Unterstützung zu verlieren, die sie dort erhalten. Würde ihnen dieses Geld auch in Syrien gegeben, würden sie nach Syrien kommen.

Warum geben die westlichen Geberländer Millionen dafür, daß Flüchtlinge in verschiedenen Ländern und in den Lagern dort bleiben, anstatt ihre Rückkehr zu unterstützen?

Natürlich hat diese Sache viel mit »Brain-Drain« zu tun. Viele Menschen, die Syrien verlassen haben und heute beispielsweise in Deutschland sind, sind unsere besten Ärzte, Architekten, Designer, Ingenieure, Köche... Deutschland hat eine überalterte Gesellschaft und braucht Intellektuelle und gut ausgebildete Leute aus anderen Ländern. Deutschland sollte erlauben, daß diese Menschen zurückzukehren. Wir werden sie mit Würde und in Freiheit empfangen und sie unterstützen, wenn sie Hilfe brauchen.

Ich möchte auf einen Prozeß zu sprechen kommen, der kürzlich vor einem Gericht in Koblenz gegen einen ehemaligen syrischen Offizier zu Ende gegangen ist und der in Deutschland anhaltend für Schlagzeilen gesorgt hat.  Was denken Sie darüber, daß deutsche Gerichte über etwas verhandeln und Recht sprechen, was in Syrien geschehen sein soll?

Ich bin nicht der Meinung, daß diese Gerichte völkerrechtlich zuständig sind. Es sind einzelne Gerichte in verschiedenen Ländern, die politischen Vorgaben genügen sollen. Was wäre wohl, wenn eine deutsche Person von einem syrischen Gericht angeklagt würde? Alle westlichen Staaten würden dagegen auf die Barrikaden gehen.

Hinter uns liegen zehn sehr schwierige Jahre. Terroristen aus verschiedenen europäischen Ländern sind in unser Land eingedrungen und einige stehen dafür jetzt in ihren Herkunftsländern vor Gericht. Doppelmoral bringt die EU-Staaten nicht weiter. Sie sollten alle diese Kriminellen nach Syrien schicken, damit wir ihre Verbrechen untersuchen und sie verurteilen können. Viele dieser Kriminellen sind noch in Syrien, im Lager Al Hol gibt es etwa 60.000. Die Europäer sollten dorthin gehen und sich diese Leute ansehen, die hier Verbrechen begangen haben. Sie haben den »Islamischen Staat« unterstützt, der Syrer tötete.

Gerade erst habe ich aus einem im Westen veröffentlichten Bericht erfahren, daß mehr als 150.000 Soldaten der syrischen Armee von diesen Terroristen getötet wurden. In der EU wird nur über das nachgedacht, was in ihrem Interesse ist. Den Interessen Syriens wird jedoch auf andere Weise gedient, und wir sind bereit, bei Verbrechen, die von diesen Terroristen auf syrischem Territorium begangen werden, sofort zu handeln.

Wir haben gute Richter in Syrien und es gibt viele Gerichte. Wir sollten keine Zweifel über die Rechtssysteme anderer Staaten verbreiten.  Das Internationale Recht definiert alle Verbrechen, die vor lokalen Gerichten verhandelt werden sollten, nicht vor Gerichten in anderen Ländern. Wenn hier jemand verhaftet wird, unterliegt diese Person dem Gesetz. Das gilt für alle.

Sie sagten, Syrien ist mit verschiedenen EU-Ländern im Gespräch, auch mit der EU, und Sie zeigen sich optimistisch, daß die Situation sich in Zukunft ändern wird.  Was erwartet Syrien von der EU und den EU-Staaten, um das Zerwürfnis, den tiefen Graben zu überwinden?

Wir müssen die Vergangenheit hinter uns lassen. Wir hoffen, daß unsere Ansprechpartner in der EU verstehen werden, daß Syrien ein souveräner Staat ist, mit einem eigenen Rechtssystem, einem eigenen politischen System, und daß Syrien alles verhindern wird, was das Leben unschuldiger Menschen mit terroristischen Angriffen gefährden könnte. Das ist das Recht eines jeden Staates.

Ich fordere alle Länder in Europa auf, EU-Mitglieder und nicht-Mitglieder der EU, eine neue Herangehensweise im Umgang mit internationalen Problemen zu finden. Sie sollten nicht auf ihren Fehlern beharren. Die syrische Regierung ist zu Gesprächen gemäß der UNO-Charta bereit, zu Gesprächen auf der Basis der Menschenrechtscharta und des Völkerrechts. Wir müssen uns darüber einigen, wie wir im Kampf gegen terroristische Angriffe gemeinsam reagieren können.

Die Europäer sind meiner Meinung nach sachlich, befassen sich mit der Realität, sind keine Träumer. Einige Länder wollten sich zwar hinter Konzepten wie »Regime Change« verstecken und versuchten, die Lage im Mittleren Osten zu ändern.

Die anhaltende Besatzung Israels von Palästina, der syrischen Golan-Höhen, von einigen Teilen des Libanon – alles das gehörte zum realen Hintergrund dieses Konflikts in Syrien, der von westlichen Staaten unterstützt und finanziert wurde. Von den USA, Britannien und von Frankreich als ehemaliger Kolonialmacht.

Sie sollten ihre Botschaften in Damaskus wieder öffnen?

Das ist eine natürliche Sache, um zu verstehen, was hier geschieht. Wenn die Europäer weiter ihre Augen verschließen, sehen sie nichts. Ihre Botschaften sind ihre Augen in Syrien. Wir wollen alle syrischen Botschaften in Europa öffnen und wir wollen, daß alle diese Länder ihre Botschaften in Damaskus wieder öffnen. Nur durch diese Art von Kommunikation kann man sich gegenseitig besser verstehen, und die Europäer können die Realität Syriens besser verstehen. Jetzt folgen sie Illusionen und Berichten, die vor der Realität keinen Bestand haben, die mit dem wirklichen Geschehen hier wenig zu tun haben.

 

UNO-Resolutionen werden nicht respektiert

Wo bleibt dann der Prozeß, den die UNO in Genf versucht in Gang zu halten?

Wir unterstützen diesen Prozeß ausdrücklich, den die UNO in Gang gebracht hat. Unsere Regierung hat das wiederholt deutlich gemacht. Die Sache ist nur, daß sich manchmal Länder in diesen Prozeß einmischen und das verstößt gegen das Prinzip, daß Syrer sich mit Syrern treffen und eine Vereinbarung finden, ohne ausländische Einmischung. Das sind die Grundlagen des Genfer Prozesses, von dem wir aber leider nicht viel sehen. Wir hören Erklärungen hier und da gegen Syrien, manchmal auch gegen die UNO. Und wir sehen, daß selbst UNO-Resolutionen nicht respektiert werden.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Vor drei Monaten hat die UNO die Resolution 2585 verabschiedet, damit wurden sogenannte frühzeitige Erholungs-Projekte, grenzüberschreitende und Frontlinien überschreitende Aktivitäten genehmigt. Wir haben unsere Verpflichtungen erfüllt, aber die EU verweigert die Umsetzung dieser Resolution. Die Türkei hat keine Lieferungen zugelassen, die Frontlinien überschreitend in den nicht besetzten Teil Syriens geschickt werden sollen.

Das einzige, was sie an humanitärer Unterstützung zuläßt, geht an die terroristischen Gruppen nordöstlich von Aleppo und in den Nordwesten. Die Lieferungen gehen an den »Islamischen Staat« und an die Nusra Front, die die humanitäre Hilfe kontrollieren. Entweder sie verkaufen die Hilfsgüter – ich betone das ausdrücklich – oder sie geben die Hilfe an die mit ihnen verbündeten Gruppen weiter oder sie behalten sie für sich selbst.

Das akzeptieren wir nicht. Die westlichen Staaten haben erklärt, daß sie das überwachen, aber es wurde kein Überwachungsmechanismus aktiviert.

Werden die »frühzeitigen Erholungs-Projekte« umgesetzt?

Die EU weist das kategorisch zurück. Darum habe ich gesagt, sie setzen die Resolution nicht um. Weder die »frühzeitigen Erholungs-Projekte« noch die anderen Prinzipien. Wir verlangen ein Minimum an Respekt für Resolutionen der UNO.

Syrien hat sich immer für die UNO und das Internationale Recht stark gemacht. Syrien war dabei, als die Organisation der Vereinten Nationen gegründet wurde, wenn ich mich recht entsinne…

Ja, das stimmt…

...aber jetzt sehen wir, daß sogar der UNO-Sicherheitsrat zu einer Bühne für Angriffe gegen Syrien geworden ist. Ein Thema ist die Frage der Chemiewaffen. Syrien hat der Organisation für das Verbot Chemischer Waffen (OPCW) alles gemeldet und geliefert. Dies wurde von der OPCW in einer Presseerklärung am 23. Juni 2014 bestätigt. Dennoch forderte die Hohe Vertreterin für Abrüstungsfragen, Izumi Nakamitsu, kürzlich im UNO-Sicherheitsrat Syrien auf, mit der OPCW zusammenzuarbeiten. Sie sagte, die syrische Erklärung über die Einhaltung des Chemiewaffenübereinkommens sei »immer noch ungenau«. Worum geht es bei der Auseinandersetzung?

 

Wir brauchen keine Chemiewaffen

Darauf möchte ich als Vorsitzender des »Nationalen Komitees für die Umsetzung der Vereinbarung zwischen Syrien und der OPCW über die chemischen Waffen« antworten. In den Jahren 2013, 2014, 2015 und auch noch 2016 waren die Bedingungen in Syrien sehr schwer. Die Kontrolleure und Ermittler der OPCW kamen hierher und wir haben uns genau in diesem Raum, wo wir jetzt sitzen, getroffen. Mit dabei war Sigrid Kaag, die später Ministerin in der holländischen Regierung wurde. Gemeinsam haben wir alles besprochen, erklärt und abgeschlossen. Natürlich kann man so eine Erklärung nicht in sechs Tagen verfassen, also schickte die OPCW eine Delegation, die uns dabei half, die Erklärung zu verfassen. Wir informierten sie vollständig über das Programm. Allerdings hatten wir über einige Orte keine Informationen. Viele Orte waren für uns nicht erreichbar, weil sie von den bewaffneten Gruppen besetzt waren. Darüber konnten wir keine abschließenden Angaben machen oder wirkliche Beweise darüber vorlegen, was dort geschah. Aber es war ganz klar, daß die syrische Regierung vollständig zur Zusammenarbeit bereit war.

Wir brauchten solche Waffen nicht, so einfach war das. Wir wollten solche Waffen auch nicht mehr, obwohl Israel über alle die Massenvernichtungswaffen verfügt – nukleare, chemische und biologische. Aber für uns war klar, wir wollten sie abschaffen, weil sie unmenschlich und unmoralisch sind. Die chemischen Waffen stammten noch aus einer Zeit, in der es ganz andere Entwicklungen in dieser Region gab. Verschiedene ausländische Kräfte kämpften um Einfluß, wir suchten nach Waffen, um uns verteidigen zu können. Gegen die USA, gegen Israel, gegen die Türkei und andere. Niemals hatten wir vor, unser Volk damit zu töten.

Als wir Tonnen von diesem Material aus der syrischen Wüste zum Mittelmeer transportierten, um es dort auf Schiffe aus den USA, Norwegen, Finnland und Frankreich zu verladen, hat uns niemand gefragt, ob wir etwas verstecken würden. Und warum sollten wir etwas verstecken wollen, wenn wir gleichzeitig diese Waffen der OPCW zur Vernichtung übergeben!

Wie dem auch sei, es gibt Länder, in denen die Ansicht vertreten wird, daß dieses Thema sich gut eignet, um die syrische Regierung weiter zu attackieren und ihre Glaubwürdigkeit in Zweifel zu ziehen. Sie haben das Thema also im Technischen Sekretariat der OPCW benutzt, um es bis vor den UNO-Sicherheitsrat zu bringen. Wir halten den Sicherheitsrat nicht für den richtigen Ort, um diese Frage zu erörtern, weil es sich um ein technisches Problem handelt. Aber die internationalen Kampagnen gegen Syrien gehen weiter.

Wir haben dem Technischen Sekretariat angeboten, die Wissenschaftler der OPCW und Syriens zusammen zu bringen, um die tatsächliche Lage zu untersuchen. Sie haben das abgelehnt und setzen den Druck gegen Syrien fort, aus politischen Gründen. Das ist die aktuelle Lage.

Ich versichere Ihnen, Syrien hat den Besitz von chemischen Waffen verurteilt, wir akzeptieren diese Waffen unter keinen Umständen. Weder in Syrien noch andernorts dürfen sie unter irgendwelchen Vorwänden eingesetzt werden. Wir sind zur Zusammenarbeit mit der OPCW bereit um zu beweisen, daß Syrien sich an seine Ablehnung von chemischen Waffen hält. Aber in der OPCW wird eine Resolution nach der anderen gegen Syrien vorgelegt, wobei die Unterstützung dafür bei den Mitgliedstaaten abnimmt. Die letzte Resolution wurde nur von 50 Ländern angenommen, andere haben sich enthalten, haben dagegen gestimmt oder waren gar nicht erst zur Abstimmung erschienen.

Die Blockaden des Westens gegen Syrien scheinen vom Osten nicht unterstützt zu werden. Syrien hat Beziehungen mit Rußland, dem Iran, China und Indien. Das war schon vor 2011 so, aber die Beziehungen haben sich verstärkt. Wird Syrien sich nach Osten wenden?

Ich bin nicht der Meinung, daß uns irgendjemand zwingen kann, auf dieser oder jener Seite zu stehen. Wir folgen unseren Interessen. Aber wo kann unser Platz sein, wenn alle westlichen Länder sich gegen Syrien positionieren? Das gleiche gilt auch für die iranische Regierung. Natürlich müssen wir unsere Wirtschaft umstellen und unsere Politik muß sich an den Interessen des syrischen Volkes orientieren, am Internationalen Recht und an der Charta der Vereinten Nationen.

Wenn Länder das alles nicht respektieren und einen »Regime Change« in Syrien anstreben, wo sollen wir dann hin? Können wir der USA-Administration zustimmen oder der französischen Regierung, die Syrien besetzen wollen, die Kampfjets schicken, um Syrien anzugreifen? Während die Russische Föderation sagt, wir verstehen die rechtmäßige Position Syriens und unterstützen das Land?

In so einer Lage werden wir natürlich an der Seite Rußlands, Chinas, des Iran und anderer Länder sein, die verstanden haben, daß wir ein multipolares System brauchen. Ein multipolares System, um das bestehende internationale Kräfteverhältnis zu verändern, in dem die westlichen Länder versuchen die Länder der ganzen Welt gegen deren Willen zu dominieren und zu beherrschen. Durch diese Einmischung, wenn man auf Kosten anderer, sich entwickelnder Länder nur die eigenen Interessen verfolgt, wird der Westen immer mehr Länder dazu bringen, den gleichen Weg zu gehen wie der Iran, Syrien und andere.

 

Für Kooperation

Die geographische und geopolitische Lage Syriens macht das Land zu einer Brücke zwischen Ost und West. Syrien ist ein Tor zum Mittelmeer und nach Europa und umgekehrt die Tür nach Asien.

Das ist richtig und diese Position wollen wir auch haben. Vor diesem terroristischen Krieg gegen Syrien war es so, daß wir die Region zwischen den Fünf Meeren zusammenführen wollten, wir haben uns um eine Ost-West-Zusammenarbeit bemüht, wir verhandelten mit der Europäischen Union über ein Abkommen und unsere Beziehungen mit den USA waren nicht so schlecht. Letztlich ist es der Konflikt zwischen Israel und den arabischen Staaten, der eine gute Entwicklung unserer Region verhindert.

Würden die syrischen Golan-Höhen an Syrien zurückgegeben, würden die Palästinenser ihr historisches Recht auf einen eigenen Staat in Palästina bekommen und würde das libanesische Territorium befreit, das noch unter israelischer Kontrolle ist, dann könnte unserer Meinung nach diese Region Frieden finden, und die Welt auch. Die Probleme gibt es, weil einige Akteure eine gesamte Region für ihre eigenen Interessen kontrollieren wollen.

Gibt es Anzeichen, daß die westlichen Staaten diese Position verstehen? Oder wird dieser Kampf anhalten?

Ich hoffe natürlich, daß die Konflikte eher heute als morgen ein Ende finden. Die Probleme werden immerhin auch von Kriminellen und Hetzern ausgenutzt.

Sie haben das 2009 von Präsident Baschar al Assad vorgestellte »Fünf-Meeres-Projekt« erwähnt, den Plan einer Kooperation der Staaten zwischen dem Kaspischen Meer, dem Schwarzen Meer, dem Mittelmeer, dem Roten Meer und dem Persischen Golf. Dessen Ziel war es, Syrien, die Türkei, Libanon und Jordanien zusammenzubringen. Es gab Infrastrukturprojekte, der Handel sollte erleichtert werden, auch die Visabestimmungen. Mit dem Krieg war das vorbei, die Grenzen Syriens waren und sind teilweise noch geschlossen. Nun gibt es die Entscheidung, den Libanon mit Strom und Gas durch die Arabische Gas Pipeline zu versorgen, was Ägypten, Jordanien, Syrien und den Libanon verbindet. Die Öffnung der Pipeline und der Stromversorgung verzögert sich, was ist der Grund?

Ich möchte betonen, daß wir von der regionalen und internationalen Zusammenarbeit überzeugt sind. Das »Fünf-Meeres-Projekt« umspannte ein weites Gebiet und hat damals in vielen Ländern große Aufmerksamkeit erregt. Es gab einige Staaten, denen diese Entwicklung nicht gefiel weil sie meinten, Syrien würde »zu gefährlich« werden. Ich meine das im Sinne von »zu stark«. Dann wurden diese Terroristen geschickt, die alles zerstörten, was an guten Vereinbarungen zum Wohle der Völker dieser Region entstanden war.

Wenn ein arabisches Land mit einer Herausforderung konfrontiert ist, wie es jetzt aktuell im Libanon der Fall ist, können wir unabhängig von unseren Positionen auf keinen Fall gegen die Interessen dieses Volkes arbeiten, und der Libanon ist uns sehr wichtig. Wir haben wiederholt eine große libanesische Delega­tion von Ministern empfangen und es gab Treffen in Jordanien. Es gab zwei, drei Treffen zum Thema Strom und zwei, drei Treffen zum Thema Gas. Ohne zu kommentieren, was andere tun oder denken, kann ich Ihnen sagen, daß wir sofort zugestimmt haben. Was notwendig ist, um Strom und Gas in den Libanon zu leiten, wurde in Syrien fertiggestellt. Sowohl der Minister für Elektrizität als auch der Minister für Öl und andere Ressourcen haben erklärt, daß Syrien für das Projekt bereit ist.

Was das Zögern von anderen betrifft, müssen diese Länder erklären. Allerdings haben wir gehört, daß die USA-Administration noch nicht endgültig entschieden hat, ob die USA-Sanktionen gegen Syrien angewendet werden sollen, wenn Strom und Gas für den Libanon durch Syrien geleitet wird. Die USA müssen das mit den anderen Staaten klären. Wir hoffen, daß das Projekt den Libanesen nutzt und ihre schwierige Situation nicht weiter verlängert wird.

Kürzlich konnte man überraschenden Besuch in Damaskus sehen, der Außenminister der Vereinigten Arabischen Emirate kam zu Gesprächen. Was ist das Ergebnis? Wird Syrien in die Arabische Liga zurückkehren?

Die Frage, ob Syrien in die Arabische Liga zurückkehrt, ist nicht so sehr das Problem. Sie wissen, daß dieses Gremium keine wirkliche Entscheidungsmacht hat, es sind die Mitgliedstaaten, die entscheiden. Syrien arbeitet mit der Mehrheit der arabischen Staaten gut zusammen. 14 von den insgesamt 22 Mitgliedstaaten der Arabischen Liga (einschließlich Syrien) sind in Damaskus mit Botschaften vertreten. Selbst Dschibouti, das nie in Syrien vertreten war, hat jetzt eine Botschaft in Damaskus eröffnet. Zwei Länder könnten noch gegen die Rückkehr Syriens in die Liga sein, aber für uns sind die bilateralen Beziehungen mit allen arabischen Staaten wichtig. Ich will nicht einzelne Länder hervorheben, jedes arabische Land ist eingeladen, wieder normale Beziehungen mit Syrien aufzunehmen. Syrien ist dazu bereit, um die Arabische Position in der Geopolitik des Mittleren Ostens zu stärken.

Dabei geht es auch um die Türkei, die arabische Länder angreift. Die Türkei positioniert sich in Libyen, in Syrien, im Jemen, im Irak, im Sudan, in Somalia, in Dschibouti. Als arabische Staaten müssen wir unsere Kontakte festigen und zusammenarbeiten. Wie kann ein arabisches Land, das die Muslim-Bruderschaft  verurteilt, mit der Türkei kooperieren? Solche Widersprüche möchten wir beenden. Wir haben gemeinsame politische, geographische, wirtschaftliche und kulturelle Interessen. All dies bringt uns zusammen und wir sollten uns nicht trennen lassen durch Loyalitäten zu Positionen, die den arabischen Ländern nicht helfen werden, sich zu entwickeln und die neuen Herausforderungen zu bewältigen. Ganz gleich, ob es sich um ökologische oder humanitäre Her­ausforderungen handelt. Die ganze Welt steht vor vielen Herausforderungen. Wenn wir uns nicht zusammenschließen, werden wir alle bedroht sein.

In diesen Tagen war eine Delegation der Palästinensischen Autonomiebehörde in Damaskus …

Ja und wir hatten gute Gespräche. Syrien glaubt an die Gerechtigkeit der palästinensischen Sache. Dies war eine Delegation der Führung der Fatah. Wir haben ihnen unsere Überzeugung mitgeteilt, daß sie ohne die Einheit der palästinensischen Fraktionen die Unterstützung der ganzen Welt verlieren würden. Syrien würde niemals seine Positionen aufgeben, wenn es um die Rechte des palästinensischen Volkes geht. Sie können sehen, daß sich die gesamte Region in eine Richtung bewegt, die den Kampf um Gerechtigkeit für das palästinensische Volk nicht fördern wird. Wir wollen, daß sich die Palästinenser zusammenschließen, ihre eigenen Probleme diskutieren und Lösungen finden, und sie werden dabei immer die Hilfe Syriens finden. Das macht es auch anderen arabischen Ländern leichter, sie zu unterstützen.

Das Interview führte Karin Leukefeld