Durchhalteparolen an die Ukraine
Westliche Politiker drängen auf militärischen »Erfolg«. Kiewer Kriegsstrategie soll in Wiesbaden in »war games« getestet werden
Ungeachtet des rasch zunehmenden Mangels in den ukrainischen Streitkräften an Soldaten und an Munition drängen westliche Politiker verstärkt auf einen militärischen »Erfolg« der Ukraine. Im Kontrast dazu skizzieren vor allem US-amerikanische Leitmedien die militärische Lage in der Ukraine realistischer als bisher. Weil sich kaum noch Freiwillige zum Kriegsdienst melden, gehen die ukrainischen Streitkräfte immer mehr zu Zwangsrekrutierungen über. Die Kiewer Kriegsstrategie soll künftig noch stärker unter Einfluß des USA-Militärs entwickelt werden.
»Eine Suizidmission«
Mehrere Berichte, die in den vergangenen Tagen vor allem in Leitmedien der USA publiziert wurden, werfen ein – im Westen seltenes – realistisches Licht auf die aktuelle Kriegführung der Ukraine. So bestätigt sich, daß der Vorstoß ukrainischer Truppen im Herbst auf das Ostufer des Dnjepr (ukrainisch: Dnipro) unweit Cherson ein einziges Desaster war. Über den Vorstoß schrieb auch das RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) am 22. November, rund 500 ukrainische Soldaten hätten »den Dnipro überqueren und sich auf der von Rußland kontrollierten Seite festsetzen« können; es scheine »für die Ukraine einer der größten Erfolge der vergangenen Wochen« zu sein.
Ein ukrainischer Militärgeheimdienstler wurde mit der Behauptung zitiert, »die Russen« gerieten »wegen der Vorstöße ukrainischer Einheiten ... in Panik«.
Wie die »New York Times«, gestützt auf Schilderungen überlebender Militärs, am 16. Dezember berichtete, werde die gesamte Offensive als »sinnlos« beschrieben. Ganze »Wellen von Soldaten« seien von gegnerischem Feuer bereits beim Überqueren des Flusses niedergemäht worden. Für diejenigen, die lebend angelangt seien, sei es »unmöglich« gewesen, auf dem Ostufer im von Bombenkratern durchzogenen Schlamm wirklich Fuß zu fassen: Es habe sich um »eine Suizidmission« gehandelt. Es sei nicht einmal gelungen, die Verletzten zu bergen, weil es an Booten gefehlt habe.
»Ein Krieg für arme Leute«
Berichte von Medien der USA bestätigen inzwischen ebenfalls, daß ein schwerer Mangel an Soldaten die ukrainische Kriegführung hemmt. Am 8. Dezember wurde ein ukrainischer Offizier in der »Washington Post« mit der Aussage zitiert: »Uns geht das professionelle Militärpersonal aus«. Grund sei eine massiv geschrumpfte Bereitschaft, sich zum Kriegsdienst zu melden. Mittlerweile hielten sich rund 650.000 Männer im kriegsdienstfähigen Alter im europäischen Ausland auf und weigerten sich, in die Ukraine zurückzureisen, um an die Front zu ziehen.
Am 15. Dezember berichtete die »New York Times«, die ukrainischen Behörden gingen immer mehr zu Zwangsrekrutierungen über, bei denen Männer im wehrpflichtigen Alter teils gewaltsam in Fahrzeuge gezerrt und zu Rekrutierungsstellen verschleppt würden. Eine Anwältin, die Zwangsrekrutierte gerichtlich vertritt, berichtet, derlei Fälle hätten in den vergangenen sechs Monaten »massiv zugenommen«; bei ihr – sie arbeitet in der westukrainischen Großstadt Tscherniwitzi mit rund 260.000 Einwohnern – meldeten sich zuweilen 30 bis 40 Personen am Tag, die gegen ihren Willen und zumindest partiell illegal in die Streitkräfte gezwungen worden seien. Freilich sei die Korruption ungebrochen; wer ausreichend Geld habe, könne sich freikaufen: »Es ist ein Krieg für arme Leute«, wird ein Rechtsanwalt aus Kiew zitiert.
Zu wenig Munition
Zu Wochenbeginn hat zudem der Kommandeur der ukrainischen Landstreitkräfte, Olexander Sirski, offen eingeräumt, die militärische Lage sei »kompliziert«, schreibt die Londoner »The Times« am 19. Dezember. Zum einen machen Berichte die Runde, den ukrainischen Truppen gehe die Munition aus. Brigadegeneral Olexander Tarnawskyj erklärte am Montag, »Knappheit« herrsche »an der kompletten Frontlinie«: »Die Mengen, die wir haben, decken den Bedarf nicht«, berichtet die »Süddeutsche Zeitung« am 18. Dezember.
Die EU hatte den ukrainischen Streitkräften großspurig versprochen, immense Mengen an Munition zu liefern, im November aber einräumen müssen, bislang nur ein Drittel der zugesagten Volumina beschafft zu haben, hieß es in der Hamburger »Die Zeit« bereits am 14. November.
Zum anderen ist, wie Sirski bestätigt, inzwischen Rußland wieder in die Offensive gegangen; ihm zufolge rücken die russischen Streitkräfte in der Ostukraine erneut vor. Der ukrainische Präsident Selenski hat am Dienstag dieser Woche mitgeteilt, die Streitkräfte forderten zur Zeit 450.000 neue Soldaten. »Das ist eine sehr ernste Zahl«, sagte Selenski. Es handle sich nicht nur um »eine Frage von Menschen«, sondern auch um »eine Frage der Finanzen«. Rekrutiere man tatsächlich nahezu eine halbe Million Menschen, werde das sehr viel Geld kosten. Selenski nannte eine Summe von rund 12,2 Milliarden Euro und kündigte eine Befassung des Parlaments mit der Forderung der Streitkräfte an, berichteten Medien am Dienstag.
»War games« in Wiesbaden
Ihre konkrete Kriegsstrategie wird die Ukraine dabei in Zukunft noch stärker als bisher unter der Kontrolle der Militärführung der USA ausarbeiten. Schon jetzt koordiniere Christopher Cavoli, Kommandeur der USA-Streitkräfte in Europa und Afrika sowie NATO-Oberbefehlshaber, die Absprachen mit Kiew intensiver, berichtete die »New York Times« am 11. Dezember. Das Pentagon werde zudem einen USA-General viel häufiger als zuvor nach Kiew entsenden, um dort die ukrainischen Streitkräfte zu »beraten«. Habe Washington es eigentlich vermeiden wollen, führende USA-Militärs dauerhaft in der Ukraine zu stationieren – auch, da dies eine offene Kriegsbeteiligung deutlich erkennen lasse –, so würden die regelmäßigen Reisen des Generals in den kommenden Wochen und Monaten einer dauerhaften Stationierung sehr nahekommen.
Bei dem General handelt es sich laut Berichten um Generalleutnant Antonio Aguto, den Kommandeur der Security Assistance Group Ukraine (SAG-U), die die Aufrüstung der ukrainischen Truppen und die Ausbildung der ukrainischen Soldaten koordiniert. Sie umfaßt rund 300 Soldaten und ist in der Clay-Kaserne in Wiesbaden-Erbenheim angesiedelt.
Dort werden ukrainische und US-amerikanische Militärs in Kürze sogenannte »war games« durchführen, um verschiedene Varianten für die ukrainische Kriegsstrategie durchzuspielen. Washington dringt – mit Blick auf die Knappheit an Munition und Soldaten – auf eine Defensivstrategie, heißt es in dem Bericht die »New York Times« vom 11. Dezember.
Im deutschen Interesse
Berlin setzt demgegenüber weiterhin auf einen Kriegserfolg der Ukraine. Wie der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil erklärt, liege es »in unserem Interesse«, daß Kiew »erfolgreich« sei. Um dies zu erreichen, müßten Deutschland und die EU vermutlich schon bald »mehr Verantwortung« bei der Unterstützung für die Ukraine übernehmen – dann jedenfalls, wenn sich in den USA, wie es den Anschein habe, die »außenpolitischen Prioritäten verschieben«: »Dann kommt es auf Frankreich, Deutschland, Polen an!«
Ein Präzedenzfall
Um die erforderlichen Mittel zur Verfügung zu haben, dringt vor allem Washington auf neue Wege. Hintergrund ist, daß die Abgeordneten der Republikanischen Partei im USA-Kongreß die Zahlung der 60 Milliarden US-Dollar an die Ukraine nicht genehmigen wollen, die die Biden-Administration verlangt. Kaum jemand geht davon aus, daß Deutschland und die EU in der Lage sein werden, diese Mittel in vollem Umfang zu ersetzen.
Bei den G7 steigt nun der Druck, die 300 Milliarden US-Dollar, die die russische Zentralbank in westlichen Staaten angelegt hat – überwiegend in Europa –, zumindest teilweise zu beschlagnahmen und sie der Ukraine zur Verfügung zu stellen, schreibt die »Financial Times« am 15. Dezember.
Der Plan galt lange Zeit als allzu riskant: Zum einen ist klar, daß Drittstaaten in Zukunft dazu übergehen werden, Vermögen aus dem Westen abzuziehen, wenn sie damit rechnen müssen, daß dieses im Konfliktfall konfisziert werden kann; zum anderen liegt nahe, daß die westlichen Staaten damit rechnen müssen, daß auch ihr Vermögen in gegnerischen Staaten eingezogen werden kann.
Vor allem Deutschland hatte den Plan bisher mit großer Skepsis betrachtet. Es sitzt auf immensen Altlasten nie gezahlter Reparationen und bis heute verweigerter Entschädigungen aus zwei Welt- und diversen Kolonialkriegen. Die Einziehung russischen Vermögens kann als Präzedenzfall gewertet werden und die Nachkommen der Opfer und ihre Staaten veranlassen, sich aus deutschem Auslandsvermögen zu entschädigen.