Leitartikel02. Juli 2024

«On n’est pas au bout de nos peines»

von Ali Ruckert

Das rechtsextreme Rassemblement National der Faschistin Marine Le Pen ging am Sonntag mit 33,15 Prozent der abgegebenen Stimmen als Sieger in der ersten Runde der französischen Chamberwahlen hervor. Dahinter folgte das kurzfristig von Sozialdemokraten, Kommunisten, La France insoumise und Grünen geschaffene Bündnis Nouveau Front populaire mit 27,99 Prozent und, weit abgeschlagen mit 20,04 Prozent, Macrons wirtschaftsliberaler Wahlverein Ensemble.

Nach dem Wahlsieg der Rechtsextremen bei den Wahlen zum EU-Parlament gab es wenig Anlass zu hoffen, dass sich das nach der fahrlässigen Auflösung des Parlaments durch Präsident Macron bei den nachfolgenden Wahlen ändern würde. Verglichen mit den Parlamentswahlen von 2022 vermochte das Rassemblement National sein Resultat im ersten Wahlgang sogar mehr als zu verdoppeln – von 4,2 auf 10,63 Millionen Stimmen.

Ob das bei der Stichwahl am 7. Juli reichen wird, um dem Rassemblement National und seinen rechtskonservativen und faschistischen Bündnispartnern eine Regierungsübernahme zu ermöglichen?

Vieles hängst davon ab, in welchem Maß die Neue Volksfront und das Präsidentenlager bis Dienstagabend in den Wahlkreisen, in denen drei Parteien es in die zweite Runde geschafft haben, ihren Kandidaten zugunsten des jeweils anderen, aussichtsreicheren Kandidaten zurückziehen werden, um einen Sieg der Rechtsextremen zu verhindern. Der Nouveau Front populaire bekannte sich dazu ohne Einschränkungen, im Präsidentenlager blieb es hingegen bei eher vagen Erklärungen, beziehungsweise Vorbehalten gegenüber Kandidaten von La France insoumise.

Aber selbst, wenn es gelingen sollte, eine direkte Regierungsübernahme durch das Rassemblement National zu verhindern, was dringend zu wünschen ist, bleibt die Frage, wie es anschließend weitergehen wird, und wie unter den gegebenen Umständen eine fortschrittliche und soziale Politik im Interesse der Schaffenden und Rentner durchgesetzt werden kann.

Immerhin ist das Erstarken der Rechtsextremen, hinter denen Milliardäre aus den verschiedensten Wirtschaftsbereichen stehen, auch eine Folge der antisozialen Politik von zwei Macron-Regierungen und der ihnen vorangegangenen sozialdemokratischen Regierung von Präsident François Hollande. Sie bauten die öffentliche Fürsorge in den ländlichen Gebieten systematisch ab, trieben Millionen Franzosen ohne berufliche Qualifikation in die Armut und setzten sie in direkte Konkurrenz mit Millionen Einwanderern, die das französische Kapital benötigte, um den Preis der Ware Arbeitskraft weiter zu drücken und seine Profitaussichten zu erhöhen.

Auch wenn die Neue Volksfront, die sich, anders als die historische Volksfront von 1936, nicht auf den größeren Teil der Arbeiterklasse stützen kann, innerhalb kürzester Zeit ein gemeinsames, aber nicht in allen Punkten fortschrittliches Programm aufs Papier brachte, bleiben die Widersprüche zwischen den reformistischen Sozialdemokraten und anderen, konsequent linksorientierten Kräften sehr groß.

Sie riskieren bei einer möglichen Regierungsübernahme erneut offen aufzubrechen – insbesondere dann, wenn es wegen der Mehrheitsverhältnisse zu einer Zusammenarbeit mit bürgerlich-konservativen Opportunisten aus dem Macron-Lager kommen sollte.

«On n’est pas au bout de nos peines» würden die Franzosen sagen.