Regierungslager in Bedrängnis
Vor zweiter Wahlrunde der Parlamentswahl wirbt Frankreichs Präsident Macron um eine »solide Mehrheit«
Präsident Emmanuel Macron ist von vielen Politikern aus dem eigenen Lager kritisiert worden, er habe sich im Wahlkampf fast gar nicht engagiert. Am Dienstag hat er sich überraschend zu Wort gemeldet. Vor dem Abflug zu einem Besuch in Rumänien und Moldawien – mit einem Abstecher in die Ukraine – forderte er auf dem Flugfeld in einer kurzen, aber dramatisch gehaltenen Ansprache an die Adresse der Wähler: »Da es um die übergreifenden Interessen der Nation geht, will ich Sie überzeugen, am Sonntag dem Land eine solide Mehrheit zu geben.« Stimmenthaltungen oder Konfusion könnten keine Probleme lösen. »Nichts wäre schlimmer, als zum internationalen Chaos ein französisches hinzuzufügen«, mahnte er. »Am Sonntag darf der Republik keine Stimme fehlen!«
Jean-Luc Mélenchon vom linken Bündnis Nouvelle union populaire écologique et soziale, kurz Nupes, bezeichnete Macrons Ansprache als »Sketch im Stil von Trump« und als eine scharfmacherische »Warnung vor dem Feind im Innern«. Olivier Faure, der Parteipräsident der Sozialisten, meinte: »Macron greift zur uralten Losung in die Enge gedrängter Politiker: Ich oder das Chaos!«
Tatsächlich hat sich schon im ersten Wahlgang am vergangenen Sonntag abgezeichnet, daß die von Macron 2016 gegründete Bewegung La République en marche (LREM), mit der er 2017 das Präsidentenamt errungen hat und die seither im Parlament über eine bequeme absolute Mehrheit verfügte, diesmal deutlich weniger Abgeordnete zählen wird. Vom Regierungsbündnis Ensemble!, zu dem auch die Zentrumspartei Modem von François Bayrou und die vom ehemaligen Premier Edouard Philippe gegründete Partei Horizont gehören, konnten sich 417 Kandidaten für die Stichwahl qualifizieren, während es vor fünf Jahren allein 518 für En marche waren. Wägt man die Siegchancen ab, kann es das Regierungslager rechnerisch auf 255 bis 295 gewählte Abgeordnete bringen. Doch ob es für die absolute Mehrheit reichen wird, ist offen: Dafür sind 288 von 577 Sitzen in der Nationalversammlung nötig. Auf jeden Fall ist man von der bisherigen Fraktionsstärke von 346 Abgeordneten weit entfernt.
In der Woche zwischen den beiden Wahlgängen haben sowohl das Regierungslager als auch das linke Bündnis alle Anstrengungen darauf konzentriert, Stimmenreserven zu mobilisieren. Dabei lag es für Ensemble nahe, sich vor allem an die Wähler der rechten Republikaner zu wenden, mit denen man bei vielen Themen übereinstimmt. Viel schwerer war es für Nupes, denn links konnte es nur darum gehen, wahlberechtigte Franzosen, die im ersten Wahlgang der Urne ferngeblieben sind, für den zweiten Wahlgang zu mobilisieren. Das betrifft vor allem die Unter-30-Jährigen. Im April bei der Präsidentschaftswahl hatten 10,8 Millionen Wähler für einen linken Kandidaten votiert, davon allein 7,7 Millionen für Jean-Luc Mélenchon, während am vergangenen Sonntag lediglich 5,8 Millionen ihre Stimme für einen Nupes-Kandidaten abgegeben haben.
Das Linksbündnis, zu dem neben La France insoumise auch die Parteien der Grünen, der Sozialisten und der Kommunisten gehören, wird sich im zweiten Wahlgang in 272 Wahlkreisen ein Duell mit einem Kandidaten des Regierungsbündnisses Ensemble liefern und in 59 Wahlkreisen mit dem rechtsextremen Rassemblement National. Letzten Umfragen und Hochrechnungen zufolge kann es Nupes auf 150 bis 190 Sitze bringen, davon allein 96 bis 115 für die Bewegung La France insoumise. Für die Partei von Mélenchon zeichnet sich damit ein Riesenerfolg ab, denn bisher verfügte sie in der Nationalversammlung nur über 18 Sitze. Für die Grünen rechnet man mit 20 bis 30 Sitzen, für die Sozialisten mit 24 bis 29 und für die Kommunisten mit zehn bis 16 Abgeordneten in der Nationalversammlung.
Das rechtsextreme Rassemblement National, für dessen Kandidaten im ersten Wahlgang knapp 19 Prozent der Wählerstimmen abgegeben wurden und von dem sich 208 Kandidaten für den zweiten Wahlgang qualifiziert haben, kann am Sonntag mit 20 bis 45 Sitzen rechnen. Das ist ein starker Zuwachs, denn in der Legislaturperiode 2012-2017 hatte RN in der Nationalversammlung nur zwei und 2017-2022 acht Sitze. Damit dürfte es diesmal für eine eigene Fraktion reichen, für die man 15 Sitze vorweisen muß. Damit hätte RN Anspruch auf wichtige Funktionen im Parlamentsbetrieb und auf staatliche Zuwendungen in Millionenhöhe.
Zwar hat Ensemble die Losung »Keine Stimme den Rechtsextremen« ausgegeben, aber ob seine im ersten Wahlgang ausgeschiedenen Kandidaten ihre Anhänger nun zur Unterstützung von noch im Rennen befindlichen Nupes-Kandidaten aufrufen sollten, blieb bis zuletzt umstritten. Premierministerin Elisabeth Borne und der ehemalige Bildungsminister Jean-Michel Blanquer bezogen dabei den radikalsten Standpunkt und lehnten »rechte wie linke Extremisten« ab. Andere Politiker des Regierungslagers sahen das differenzierter und forderten, »von Fall zu Fall« abzuwägen. In den Genuß dieser »Großzügigkeit« kommen aber nur einige grüne und sozialistische Kandidaten.