Libanon im Sommer 2023
Gas, Geld und Armut
Der Libanon hat etwa 5 Millionen Einwohner. Hinzu kommen rund 500.000 Arbeiter aus Syrien, den asiatischen Staaten oder Afrika, die auf Baustellen, in Hotels oder privaten Haushalten angestellt sind, sowie etwa 1,5 Millionen Flüchtlinge aus Syrien, Palästina und afrikanischen Kriegs- und Krisengebieten, von denen die meisten beim UNHCR registriert sind. Im Sommer dann steigt die Zahl der Menschen im Zedernstaat um mehr als 2 Millionen Libanesen an, die schon vor Jahren, Jahrzehnten oder auch vor Generationen ihre Heimat verließen und irgendwo in der Welt ein neues Zuhause gefunden haben.
Allen Unsicherheiten zum Trotz genießen die Auslandslibanesen auch in diesem Sommer die Zeit mit ihren Familien. Studierende zeigen den Großeltern stolz ihre Magistertitel von fremden Universitäten, junge Eltern führen ihre Neugeborenen und jüngsten Kinder vor. Im Gepäck sind neben Geschenken vor allem Medikamente und Geld, um den Daheimgebliebenen das weitere Überleben in der Heimat zu erleichtern.
Die Wiedersehensfreude kann nicht über den schwierigen Alltag hinwegtäuschen. Nach Angaben der Weltbank ist der Preis für Nahrungsmittel in den letzten vier Jahren – seit dem Beginn der schweren Wirtschaftskrise – um 280 Prozent gestiegen. Die Kosten für medizinische Behandlung stiegen allein in einem Monat um 44 Prozent.
Vielversprechende Zukunft
Währenddessen schwebt die politische Elite bildlich gesprochen in eine vielversprechende Zukunft. Am Dienstag bestieg der amtierende Ministerpräsident Najib Mikati vor laufenden Kameras einen Hubschrauber, um die Bohrinsel Transocean Barents zu besichtigen, die auf Block 9 in der seeseitigen exklusiven Wirtschaftszone des Libanon vor Anker gegangen ist. An seiner Seite saß Parlamentssprecher Nabih Berri, der mit den Worten zitiert wurde, es sei »ein Tag der Freude in dunklen Zeiten«. Mit von der Partie waren die amtierenden Minister für Energie, Walid Fayyad und für öffentliche Arbeiten und Verkehr, Ali Hamiyeh.
Der Hubschrauber brachte die Politiker zu Block 9, dem Qana-Feld, wo große Gasvorkommen vermutet werden. Die Erkundungsarbeiten auf der Bohrinsel sollen am heutigen Donnerstag beginnen, hat Fayyad angekündigt. Erste Ergebnisse werden in 67 Tagen erwartet. Betrieben wird die Bohrinsel von dem französischen Öl- und Gasunternehmen TotalEnergies (Anteil 35 Prozent), der italienischen Eni (Anteil 35 Prozent) und von QatarEnergy (30 Prozent) aus dem Golfemirat Katar. Das russische Unternehmen Novatek hatte sich im September 2022 aus dem Geschäft zurückgezogen und seinen Anteil an den libanesischen Staat zurückgegeben. Im Februar 2023 stieg QatarEnergy in das Consortium ein.
Lukrative Geschäfte in der EU
Im Oktober 2022 hatten Libanon und Israel sich auf die Abgrenzung der seeseitigen Wirtschaftszone geeinigt, um jeweils Gas- und Ölförderung vorzubereiten. Block 9 wurde dem Libanon zugesprochen. Israel, das einen kleinen Teil von Block 9 beansprucht, wird von der französischen TotalEnergies entschädigt. Sowohl Israel als auch der Libanon hoffen auf lukrative Geschäfte vor allem in der EU. Nach der Ausweitung des Krieges in der Ukraine im Februar 2022 hatte die EU sich und seine energieintensive Industrie mit einer Kaskade von Wirtschaftssanktionen gegen Rußland von den günstigen und unter umweltfreundlichen Bedingungen per Pipeline gelieferten russischen Gasimporten abgeschnitten.
Tatsächlich braucht der Libanon mögliche Gasvorkommen zunächst für die Versorgung der eigenen Bevölkerung. Die Libanesen werden von der öffentlichen Stromgesellschaft mit nur wenigen Stunden Strom am Tag versorgt und müssen sich für viel Geld Strom von Generatoren hinzukaufen. Das Vertrauen der Bevölkerung ist gering, daß sich mit Gasfunden die Versorgungslage verbessern wird. Sollte genügend Gas gefunden werden, werde sich die politische Elite nur darauf konzentrieren, den eigenen, persönlichen Anteil an dem Gasgeschäft zu sichern, sagte ein Gesprächspartner in Beirut. »Wenn sie verlieren bezahlen wir. Wenn sie gewinnen, bezahlen wir auch.«
Beispielloser Absturz
Vor einer Woche wurde der vorläufige Untersuchungsbericht zur Überprüfung der Geschäfte der Libanesischen Zentralbank (BDL) der Presse zugespielt. Der mit »vertraulich« gekennzeichnete Bericht des Unternehmensberaters Alvares & Marshall (A&M) umfaßt 332 Seiten und befaßt sich mit den Geschäften der BDL in der Zeit vom 1.1.2015 bis zum 31.12.2020. Danach ist die Bank von einem Devisenüberschuß Ende 2015 in Höhe von 7,2 Milliarden US-Dollar auf ein Defizit Ende 2020 von 50,7 Milliarden US-Dollar abgestürzt.
Ohne Berücksichtigung der Fremdwährungsaktiva, einschließlich der Eurobonds, belaufe sich der negative Saldo Ende 2020 auf 70,9 Milliarden US-Dollar, schrieb die Tageszeitung »L’Orient Le Jour«, die fast täglich neue Horrormeldungen aus dem BDL-Untersuchungsbericht veröffentlicht. Im Jahr 2020 betrug die Verschuldung 230 Prozent des libanesischen Bruttoinlandsprodukts von 31,2 Milliarden US-Dollar.
Der Untersuchungsbericht verweist zudem auf Fälle von Überzahlungen für Anschaffungen. Beim Kauf von 100 Luftreinigern wurde beispielsweise ein Stückpreis von 3.000 US-Dollar bezahlt. Der Listenpreis für diese Maschinen lag aber nur zwischen 800 und 1.200 US-Dollar. Als »unangemessen« angesichts der schlechten finanziellen Lage der BDL bezeichnet der Bericht auch die Anschaffung einer Wachsstatue aus einer europäischen Galerie für 100.000 US-Dollar.
Für den beispiellosen finanziellen Absturz wird der langjährige BDL-Gouverneur Riad Salameh verantwortlich gemacht, gegen den auch EU-Staaten wegen Korruption und Geldwäsche ermitteln. Salameh beendete seine Amtszeit nach 30 Jahren ordnungsgemäß am 31. Juli 2023. Kanada und die USA haben gegen Salameh und »Mitverschwörer« inzwischen Sanktionen verhängt. Seine Konten wurden gesperrt, er darf den Libanon nicht verlassen.