Arm trotz Arbeit
Horrende Mieten machen in Italien Hunderttausende obdachlos
Das liberale Wirtschaftsblatt »Il Fatto Quotidiano« berichtete in der vergangenen Woche über einen 50-jährigen Arbeiter, der in Mailand mit einem Fünf-Stunden-Job 800 Euro monatlich verdient. Bei den horrenden Mieten kann er sich ein Zimmer – die Preise liegen in der Industriemetropole bei monatlich 600 bis 700 Euro – nicht leisten, und so lebt er in einem Zelt, das er jeden Abend vor dem Schaufenster eines Modegeschäfts aufbaut, nur einen Steinwurf von der Piazza San Babila in Mailand entfernt. Um 2 Uhr nachts hat er Arbeitsschluß. Zum Schlafen bleiben nur ein paar Stunden, denn um sieben muß er das Zelt abbauen, bevor die Geschäfte öffnen.
Für den Hungerlohn von 800 Euro schuftet er in Nachtschichten als Regaleinräumer in einem Kaufhaus. Vorher arbeitete er als Tankwart, wurde jedoch bei Ausbruch der Pandemie entlassen und landete auf der Straße. Zu den »Lebensbedingungen« auf der Straße gehört, daß öffentliche Toiletten fehlen, sagt er. »Im Zentrum gibt es keine und die Clubs lassen einen nicht hinein, es sei denn, man verzehrt etwas. Frauen müssen sich hinter Säulen stellen, um ihre Notdurft zu verrichten.«
Einer von drei Millionen
Dabei gibt es in der Stadt viele leerstehende Gebäude, die die Stadtverwaltung zur Verfügung stellen könnte. »Aber weder der Bürgermeister (der von einer »Linken Mitte« unter Führung des sozialdemokratischen Partito Democratico (PD) gewählte Giuseppe Sala) noch die Stadträte haben sich die Zeit genommen, einmal hierher zu kommen, um zu fragen, was wir brauchen.«
Der 50-jährige Arbeiter ist einer von mindestens drei Millionen Italienern, die trotz Arbeit in die Armut abrutschen, hält »Il Fatto Quotidiano« fest. Nach einem Bericht von Eurostat müssen in Italien Familien mit einem »normalen« Einkommen, also einem Einkommen oberhalb der Armutsgrenze, durchschnittlich 33,8 Prozent für die Miete verwenden.
Ein anderer Aspekt ist, daß laut Angaben karitativer Organisationen Ausländer ohne Aufenthaltsgenehmigung etwa die Hälfte der Obdachlosen in Italien stellen. Hinzu kommen vor allem Langzeitarbeitslose im Alter von 40 bis 50 Jahren, die keine Beschäftigung mehr finden, und Geschiedene, die von Armut bedroht sind und auf der Straße landen. Die meisten Obdachlosen gibt es in Großstädten wie Rom, Neapel und Mailand.
Die am stärksten vom Obdachlosenproblem betroffene Stadt ist nach offiziellen Angaben Mailand mit mehr als 12.000 Menschen ohne Wohnung. Es folgt Rom mit etwa 8.000 Obdachlosen. Aber auch in den »reichen« Städten des Nordostens wächst die Zahl der Armen ohne Unterkunft.
Sozialwohnungen werden verkauft
Die sozialdemokratisch geführte Stadtverwaltung von Rom hält das nicht davon ab, aus dem Bestand öffentlicher Wohnungen und Sozialwohnungen in den nächsten Jahren 14.000 für den Verkauf freizugeben, enthüllte unlängst »Il Manifesto«. Damit würden ganze Stadtteile, die früher von Menschen aus der Arbeiterklasse bewohnt wurden, dem »wilden Markt« und einer gigantischen Klassenselektion zum Opfer fallen. Schon seit Beginn des neoliberalen Zyklus Ende der 80er Jahre sei dieser Prozeß von Zwangsräumungen begleitet gewesen. Bereits im Jahr 2007 hatte die Stadtverwaltung Roms 7.410 von 24.000 Wohnungen verkauft, so das linke Blatt, das davon ausgeht, daß es in den nächsten zwanzig Jahren im Zentrum Roms und in den umliegenden Vierteln möglicherweise überhaupt keine Sozialwohnungen mehr geben werde.
Zum Heer der Obdachlosen kommen Jahr für Jahr Tausende Jugendliche, die nach dem Studium oder dem Lehrabschluß keine Arbeit finden oder, wenn sie einen Arbeitsplatz haben, nicht genug verdienen, um eine Wohnung zu mieten. »Glück« – wenn der Ausdruck angebracht ist – haben diejenigen, die bei den Eltern wohnen können. 2004 blieben Jugendliche noch bis zum Alter von durchschnittlich bis zu 30 Jahren bei den Eltern, im Jahr 2022 ist das durchschnittliche »Mindestalter« der im »Hotel Mama« Lebenden auf bis zu 38 Jahre angestiegen, errechnete der Demografie-Professor an der Katholischen Universität Mailand, Alessandro Rosina. Und er ist sich sicher, daß es 2030 auf 48 Jahre steigen werde.
Steigende Mieten unerschwinglich
Für sie sind Mieten wie in der Lombardei unerschwinglich – mit 14,80 Euro je Quadratmeter die teuerste Region Italiens. Es folgen Latium (12,40 Euro/m²) und die Toskana (12,20 Euro/m²). Dabei wird es nicht bleiben, denn 60 Prozent der italienischen Provinzmärkte weisen nach wie vor steigende Mietpreise zwischen zirka sechs Prozent in Forli (Emilia Romanga) bis 44 Prozent) in Grossetto (Toskana) auf.
»Nachschub« für das Heer der Obdachlosen schafft die faschistische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni mit ihrem sogenannten »Beschäftigungsdekret«, auf dessen Grundlage seit dem 28. Juli 2023 weitere 169.000 italienische Familien ohne jedes Einkommen dastehen, weil ihnen das »Bürgereinkommen« entzogen wurde. Die meisten dieser Menschen aus diesen Familien werden, wie das Nationalinstitut für Soziale Fürsorge (INPS) befürchtet, keinen Arbeitsplatz finden, was in sehr vielen Fällen den Verlust der Wohnung nach sich zieht.