Leitartikel12. September 2024

Am Katzentisch der NATO

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Wie mögen sich Premierminister Frieden und seine 29 Amtskolleginnen und Kollegen gefühlt haben, als die USA und Deutschland auf dem Jubiläumsgipfel zum 75. Jahrestag der NATO-Gründung in Washington am 10. Juli in einer aus nur vier Sätzen bestehenden Erklärung mitteilten, ab übernächstem Jahr würden die USA neue, weitreichende Waffen in Deutschland stationieren? Wie am Katzentisch der NATO?

In der, wie mittlerweile bekannt wurde, allein in Washington ausgeheckten »bilateralen« Erklärung von USA-Präsident Biden und BRD-Kanzler Scholz heißt es, ab 2026 würden die USA »als Teil der Planung zu deren künftiger dauerhafter Stationierung, zeitweilig weitreichende Waffensysteme ihrer Multi-Domain Task Force in Deutschland stationieren«. Und weiter: »Diese konventionellen Einheiten werden bei voller Entwicklung SM-6, Tomahawks und derzeit in Entwicklung befindliche hypersonische Waffen umfassen.«

Bei den SM-6 handelt es sich um Raketen zur Bekämpfung neuester Kampfflugzeuge und Marschflugkörper, Raketen vom Typ »Tomahawk« haben eine Reichweite von 2.500 Kilometern – also bis weit hinter Moskau – und können auch mit Atomwaffen bestückt werden, bei »hypersonischen« Waffen, die noch in der Erprobung sind, handelt es sich um nichts anderes als Überschallraketen mit Geschwindigkeiten jenseits der 1.236 Kilometer, die der Schall pro Stunde zurücklegt. Insbesondere mit deren Stationierung wächst wegen der geringen Vorwarnzeit die Gefahr eines unbeabsichtigt ausgelösten Krieges.

Doch das scheint den Militärstrategen im fernen Washington egal zu sein, wenn es darum geht, das militärische Gleichgewicht mit Rußland in Europa zugunsten der NATO zu brechen. Dazu verfolgen die USA-Regierungen seit 2006 das technologische Ziel, in der Lage zu sein, einen »Prompt Global Strike« durchzuführen, also jeden Ort der Welt in einer Stunde angreifen zu können. Das böte ihnen allumfassend ein brandgefährliches Erpressungspotential, was enorme Eskalationsrisiken in sich birgt.

Begleitet wird die Stationierungsentscheidung, zu der es im Vorfeld weder eine öffentliche Debatte, noch eine Aussprache im deutschen Parlament gab, mit der Verbreitung von Lügen. Da wird – mittlerweile auch von Kanzler Scholz – wahrheitswidrig behauptet, der russische Präsident Putin habe den Ende 1987 noch zwischen den USA und der Sowjetunion geschlossenen INF-Vertrag über nukleare Mittelstreckenwaffen aufgekündigt, und nicht der damalige USA-Präsident Trump schon 2019.

Auch von einer angeblichen »Fähigkeitslücke« der NATO ist ständig die Rede. Dabei hat Scholzens Parteifreund, der SPD-Außenpolitiker Stegner, schon Ende Juli in einem Interview mit dem Westdeutschen Rundfunk (WDR) darauf hingewiesen, daß die NATO bei see- und luftgestützten Mittelstreckenraketen, mit denen weit entferntes russisches Territorium erreicht werden kann, Rußland »deutlich überlegen« sei.

Diese Raketen, so Stegner unter Berufung auf ein Papier der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung, seien nur nicht so schnell und so beweglich wie die nun angekündigten landgestützten Raketen. Das Neue der weit über Moskau hinaus reichenden USA-Waffen ist also: Sie machen Überraschungsangriffe der NATO auf Rußland eher möglich.

Könnten Premierminister Frieden und sein mit zum NATO-Jubiläumsgipfel gereister Außenminister Bettel nicht wenigstens so tun, als ob sie eine für die Sicherheitsinteressen insbesondere Europas so weitreichende Entscheidung etwas anginge?