Ausland12. September 2024

Demokratie und Massenmord

Nachdenken über ein demokratisches Israel

von Günter Pohl

Bekanntlich ist Israel in der Sicht westlicher Analysten »die einzige Demokratie im Nahen Osten«. Die Abhaltung regelmäßiger Wahlen für diese Einschätzung als ausreichend anzusehen, ist für diese ein Akt der Selbstvergewisserung, hat man hier im »regelbasierten Westen« doch auch nicht viel mehr zu bieten.

Es gab Zeiten, da war Kolumbien nahezu das einzige Land im lateinamerikanischen Teil von Südamerika, das Wahlen abhielt; das Land wurde damals als »älteste Demokratie« der Region bezeichnet. Dort wechselten sich nach Absprache Liberale und Konservative Partei ab 1957 alle vier Jahre in der Regierungsverantwortung ab. Die Zahl der im seit 1948 geführten Krieg der Oligarchie gegen das eigene Volk ermordeten Menschen – zeitweise jährlich so viele wie in siebzehn Jahren Pinochet- oder sieben Jahren Videla-Diktatur – konnte dem nicht Abbruch tun. Zudem wurde in westlichen Medien unterschlagen, daß Kolumbien diesen Ruf der Money-Demokratie im Norden verdankte, da ausnahmslos alle nichtwählenden Regimes in der Nachbarschaft mit deren Hilfe oder Wohlwollen zustande gekommen waren.

Das ist bei den Israel benachbarten Staaten ähnlich, aber nicht in jedem Fall so. Saudi-Arabien, Ägypten, Jordanien, Iran, Jemen und der Irak wurden in unterschiedlichen Epochen von westlich geförderten Clan- oder Alleinherrschern angeführt. Syrien auch; das geschah – als die Regel bestätigender Ausnahmefall – jedoch unabhängig von USA-Gnaden. Der multireligiöse und parlamentarisch orientierte, aber heute de facto von der Hisbollah beherrschte Libanon ist ohnehin ein Sonderfall.

Mit den Jahren sind den USA auch der Iran und der Jemen von der Stange gegangen und der »IS« als Nach-Nachfolger der in der Endphase der UdSSR aufgebauten Mudschaheddin hat in seiner gescheiterten Mission als völkermörderische Stoßtruppe gegen das unbotmäßige Syrien zurzeit ausgedient.

Also Demokratieverachtung allumher. Da leuchtet der israelische Demokratie-Stern umso heller. Ihm tun hier im Westen Zehntausende Morde keinen Abbruch; im Gegensatz zum Fall Kolumbien sind es noch nicht einmal solche am eigenen Volk. Weiter fließen also die Waffen in die »rechtsstaatlich« organisierte Dezimierung der Palästinenser – den einen Geschäft, den anderen willkürlich interpretierte Staatsräson.

Seien wir ehrlich: Daß in Israel ein gegen die Politik der rechtsextremen Regierung geführter Generalstreik als »politisch motiviert« verboten wurde, wäre hier genauso geschehen. Gern erweist sich die Demokratie an ihrer Negation.