Die Gunst der Stunde
Am heutigen Dienstag dreht sich buchstäblich alles um ein Ereignis, das eigentlich einen zutiefst nationalen Charakter hat. Bei Wahlen in den USA geht es um die Präsidentschaft des Landes und um einen Teil der Sitze im Kongreß, dem nationalen Parlament. Zugegeben, die USA sind nicht irgendein Land. Dennoch ist es bemerkenswert, daß (fast) die gesamte Presse der westlichen Welt sich auf dieses Ereignis stürzt, als stünde die Geburt eines neuen Heiland bevor.
Die Rede ist immer wieder von »Schicksalswahl« – ein Begriff, der es eigentlich längst auf den Spitzenplatz bei der Auswahl des »Unworts des Jahres« geschafft haben sollte. Die Anhängerschaft beider Kandidaten ist offenbar fest davon überzeugt, daß es bei der Entscheidung zwischen Kamala Harris und Donald Trump um eine Entscheidung zwischen »Gut« und »Böse« geht, mit Nuancierungen zwischen »besonders gut, nur mit dieser Wahl gewinnen wir das Himmelsreich« und »extrem böse, mit dieser Wahl droht uns der Weltuntergang«.
Ein Blick auf die vergangenen Jahrzehnte sollte genügen, um die Extreme deutlich zu relativieren. Es gab seit dem Zweiten Weltkrieg – den übrigens entgegen der immer stärker suggerierten Darstellungen die USA keineswegs alleine gewonnen haben – keinen einzigen Präsidenten der USA, der keine Schuld oder zumindest Mitschuld an Kriegen und gewaltsamen Umstürzen in aller Welt auf sich geladen hat. Im Nachhinein würde es selbst den meisten Leuten, die alle Präsidenten der USA seit 1945 der Reihe nach aufzählen könnten, ziemlich schwer fallen, exakt zu sagen, ob der jeweilige Chef im Oval Office der Republikanischen oder der Demokratischen Partei angehörte.
Die Erfahrung aus Wahlkämpfen in den USA und vielen anderen Ländern, einschließlich Luxemburg, sollte uns auch lehren, daß aus Wahlkampfreden keinerlei Schlußfolgerungen für die künftige Politik zu ziehen sind. Wahlversprechen sind meist billig, und sie sind vor allem keine politischen Programme.
Dennoch nutzen Politiker die Gunst der Stunde, um vor dem Hintergrund der Wahlpropaganda bei dieser »Schicksalswahl« ihr eigenes Süppchen zu kochen. Allen voran Politiker europäischer NATO-Länder, die entschieden haben, daß vom Ausgang der Wahl an diesem Dienstag ihre Blütenträume von immer mehr Aufrüstung abhängen. Trumps offene Forderung, die Mitgliedstaten der NATO sollten gefälligst mehr Geld für die Rüstung, für den Unterhalt der USA-Truppen, für deren Truppenbewegungen, Stationierung und Manöver in aller Welt bezahlen, ist nicht neu. Sie hat – in weitgehender Übereinstimmung mit Trumps Vorgänger im Präsidentenamt, dem »demokratischen« Friedensnobelpreisträger Obama – bereits zu mehreren Entscheidungen der NATO über die Erhöhung von Militärausgaben geführt.
Und somit dient die Wahl zwischen dem narzisstischen Selbstdarsteller Trump und der Biden-Nachfolgerin Harris als willkommener Anlaß, um immer mehr Geld in die Rüstung zu stecken, öffentliche Ausgaben für Gesundheit und Bildung immer mehr zu reduzieren, die Menschen auf immer mehr Einbußen bei Löhnen und letztlich auch bei den Renten einzustimmen, und auch unsere Jugend nicht nur auf einen obligatorischen Militärdienst, sondern auch auf einen neuen Krieg vorzubereiten.
Wir sollten die Gunst der Stunde nutzen, um über diese Zusammenhänge besser nachzudenken.