Frankreichs Hilfsvereinigungen für Arme droht der Kollaps
Immer mehr Familien können sich mit ihren Einkünften nicht mehr ausreichend ernähren
Im September 1985 nutzte der populäre Schauspieler Coluche (Michel Colucci) seine tägliche Sendung bei Radio Europe 1, um die Idee einer kostenlosen Kantine für Arme zu lancieren. Für ihn war es unbegreiflich, daß tagtäglich unverkaufte Lebensmittel vernichtet wurden, statt sie an bedürftige Arbeitslose oder kinderreiche Familien zu verteilen oder kostenloses Essen zu kochen und auszugeben.
Die von Coluche gegründete Organisation »Restos du coeur« war als vorübergehende Einrichtung gedacht, erwies sich aber mit den Jahren mehr und mehr als unverzichtbar. So wurden seit Anfang des laufenden Jahres an 1,3 Millionen Menschen fertige Mahlzeiten oder Lebensmittel ausgegeben, während es im selben Zeitraum des vergangenen Jahres 1,1 Millionen waren. In einzelnen Departements wie dem Val d‘Oise hat der Bedarf sogar um bis zu einem Drittel zugenommen. Immer mehr Familien, die sich anmelden wollen, weil sie sich mit ihren Einkünften nicht mehr ausreichend ernähren können, müssen abgewiesen werden.
Wenn nicht innerhalb kürzester Zeit 35 Millionen Euro aufgebracht werden, könnte das 39. Jahr der »Restos du coeur« auch ihr letztes sein, weil schon in Kürze die Zahlungsunfähigkeit droht, warnte am 3. September der ehrenamtliche Vereinspräsident Patrice Douret in einem Fernsehinterview. Dabei sind die Spenden von Privatleuten und Firmen sowie die staatlichen Beihilfen etwa gleich hoch wie im vergangenen Jahr und auch das Engagement der vielen tausend freiwilligen Helfer im ganzen Land läßt nicht nach.
Doch all das hält nicht mehr Schritt mit dem stark gestiegenen Bedarf. Dieser sei durch die Energiekrise, die Inflation und die damit begründeten Preissteigerungen für Lebensmittel extrem angewachsen und erfasse über den bisherigen Kreis der Ärmsten der Armen hinaus auch immer mehr Menschen aus den unteren Mittelschichten.
Der SOS-Ruf zeigte Wirkung. Die Regierung kündigte umgehend eine Soforthilfe in Höhe von 15 Millionen Euro an. Bernard Arnault, der Eigentümer des Luxusartikelkonzerns LVMH und der Liste des US-amerikanischen Magazins »Forbes« zufolge der nach Elon Musk zweitreichste Mensch der Welt, schickte einen Scheck über 10 Millionen Euro. Der Energiekonzern TotalEnergies überwies 5 Millionen Euro. Die Spieler der Fußballnationalmannschaft spendeten zusammen 500.000 Euro. Neben vielen – oft anonymen – Geldspenden gingen bei der Hilfsorganisation auch Ankündigungen von Handelsketten und der Lebensmittelindustrie über zusätzliche Sachspenden ein, beispielsweise eine Million Joghurts vom Molkereikonzern Danone.
In den auf den SOS-Ruf folgenden Tagen meldeten sich auch die anderen großen Hilfsorganisationen des Landes zu Wort, und aus ihren Schilderungen geht hervor, daß die Lage bei ihnen ähnlich dramatisch ist. Das reicht von dem 1945 durch Kommunisten gegründeten »Secours populaire« über den kirchlichen »Secours catholique« bis zum Roten Kreuz. Aus einer in diesem Zusammenhang veröffentlichten Studie geht hervor, daß heute 19 Prozent der Menschen in Frankreich aus finanziellen Gründen eine Mahlzeit pro Tag auslassen. Vor zehn Jahren waren es 12 Prozent.
»Wir haben uns noch nie in der Vergangenheit einer solchen Nachfrage gegenüber gesehen«, meint auch Barbara Mauvilain, die Sprecherin der Französischen Föderation der Lebensmittelbanken. Dabei handelt es sich um 79 regionale Logistikorganisationen, die gespendete Nahrungsgüter entgegennehmen, zwischenlagern und dann an die örtlichen Strukturen der großen Hilfsorganisationen oder an die landesweit rund 6.000 kleineren Vereine und kommunalen Sozialzentren verteilen. Grundlage dafür ist ein 2016 erlassenes Gesetz, das dem Handel verbietet, dem Verfallsdatum nahe Lebensmittel zu vernichten. Er ist verpflichtet, sie den Lebensmittelbanken zuzuleiten, was durch den Staat – wie bei anderen Spenden – mit einem Steuernachlaß honoriert wird.
»Die Lebensmittelbanken haben 2022 geholfen, 2,4 Millionen Franzosen zu ernähren, doch allein im ersten Quartal 2023 lag der Bedarf schon wieder um 9 Prozent höher«, präzisiert Barbara Mauvilain. »In den vergangenen 15 Jahren, von der Finanzkrise 2008 über die Corona-Pandemie bis zur gegenwärtigen Energiekrise und Inflation, ist die Nachfrage nie zurückgegangen, sondern hat sich insgesamt verdreifacht.«
kein Flickwerk, sondern strukturelle Veränderungen
Die Spenden, die auf seinen SOS-Ruf folgten, werden den »Restos du Coeur« zumindest helfen, die nächsten Monate durchzustehen, meint Patrice Douret. Er ist jedoch – wie seine Kollegen der anderen Hilfsorganisationen – überzeugt, daß die gegenwärtige Situation und die schon absehbaren weiteren Entwicklungen »als Antwort kein Flickwerk, sondern strukturelle Veränderungen erfordern«. Dafür seien öffentliche Debatten im ganzen Land zu diesem Thema nötig, aus denen die Regierung Schlußfolgerungen zieht und die in konkrete Maßnahmen münden.
»Die Vermeidung von Armut muß eines der Hauptanliegen der Regierung sein«, sagt Douret. »Doch zum Armutsproblem gehören auch menschenwürdiges Wohnen oder der Anspruch auf Energie, Gesundheit und Bildung. Wenn dann irgendwann einmal Lebensmittelhilfe überflüssig wird, kann uns das nur recht sein.«