Leitartikel20. Juni 2024

Gefährlich und obszön

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Die Warnung aus Stockholm könnte kaum eindringlicher sein: »Wir leben in einer der gefährlichsten Zeiten in der Geschichte der Menschheit«, mahnte Dan Smith, Direktor des in der schwedischen Hauptstadt ansässigen Internationalen Friedensforschungsinstituts SIPRI, bei der Vorstellung des neuen Jahresberichts. Für die Großmächte sei es an der Zeit, »einen Schritt zurückzutreten und nachzudenken. Am besten gemeinsam.«

Der Jahresbericht befaßt sich vor allem mit der atomaren Aufrüstung. Zwar gehe die Gesamtzahl der Atomsprengköpfe weiter zurück, doch gleichzeitig steige schon seit Jahren die Zahl der einsatzbereit gehaltenen Nuklearsprengköpfe. Derzeit beläuft sich ihre Zahl SIPRI zufolge auf ungefähr 9.600, davon würden 2.100 in »hoher Alarmbereitschaft« gehalten. Das bedeutet, daß sie nur noch auf Raketen montiert werden müssen, um abschußbereit zu sein.

90 Prozent der Atomsprengköpfe befinden sich dem Bericht zufolge im Besitz der USA und Rußlands. Zum ersten Mal halte in diesem Jahr vermutlich auch China, das insgesamt über rund 500 Sprengköpfe verfügt und damit mittlerweile Rang drei einnimmt, einige davon in hoher Alarmbereitschaft. Doch ausnahmslos alle Atommächte strebten nach einer Aufstockung ihrer Bestände. In den vergangenen fünf Jahren seien die Ausgaben um mehr als ein Drittel angestiegen.

»Wir können von einem nuklearen Wettrüsten sprechen«, erklärte dazu Melissa Parke, die Präsidentin der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN). Doch während die Atommächte zusammen 91 Milliarden US-Dollar pro Jahr für ihre Arsenale ausgäben, brächten die USA allein 51,9 Milliarden US-Dollar für Atomwaffen auf – mehr als alle anderen zusammen. Hinzu kommt, daß die USA 2023 auch für rund 80 Prozent der weltweiten Mehrausgaben verantwortlich sind.

Seit 2018 gaben die neun Atomwaffen besitzenden Staaten – neben den USA, China, Rußland, Britannien und Frankreich sind es Indien, Israel, Pakistan und Nordkorea – 387 Milliarden US-Dollar für Atomwaffen aus. »Diese Zahlen sind obszön«, sagte Parke. Damit könne das Welternährungsprogramm den Hunger in der Welt beenden.

Die ICAN hatte 2017 den Friedensnobelpreis für ihren Beitrag bei der Ausarbeitung des im Januar 2021 in Kraft getretenen Atomwaffenverbotsvertrags erhalten. Als NATO-Mitglied ist Luxemburg noch immer nicht unter den mittlerweile 93 UNO-Mitgliedern, die das Abkommen unterzeichnet haben. 70 Staaten haben es bereits ratifiziert.

Daß China dem SIPRI-Bericht zufolge mittlerweile 11,8 Milliarden US-Dollar für sein Atomwaffenarsenal ausgibt, dürfte indes damit zusammenhängen, daß in Beijing längst Parallelen gezogen werden zwischen der NATO-Osterweiterung bis hin zur Ukraine und der Militarisierung der Inseln vor der chinesischen Küste – von Japan über Taiwan bis zu den Philippinen – durch die USA.

Erst vor wenigen Tagen hieß es in der »Financial Times«, Chinas Präsident Xi Jinping habe im April 2023 gegenüber EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen geäußert: Washington könnte die Volksrepublik zum Angriff auf Taiwan provozieren. Die Volksrepublik werde sich darauf keinesfalls einlassen, ließ Xi die vor einer zweiten Amtszeit als EU-Chefin stehende deutsche Konservative wissen.

Höchste Zeit, daß auch die USA und ihre Verbündeten »einen Schritt zurücktreten«.