Ausland14. Juli 2023

Der Gipfel von Vilnius

NATO-Gipfel beschließt konkrete Operationspläne für etwaigen Krieg gegen Rußland, Aufrüstung und keine NATO-Beitrittszusage für die Ukraine, aber »Sicherheitsgarantien«

von German Foreign Policy

Mit neuen Aufrüstungsverpflichtungen und der Einigung auf konkrete Operationspläne für einen möglichen Krieg gegen Rußland ist am Mittwoch der NATO-Gipfel in Vilnius zu Ende gegangen. Beschlossen wurden unter anderem drei Teilpläne, die das militärische Vorgehen im Kriegsfall getrennt nach drei Regionen skizzieren: einer für den Nordatlantik, ein zweiter für Deutschland und die Ostsee plus Anrainer, ein dritter für Südeuropa und das Schwarze Meer.

Um ausreichend Waffen bereitstellen zu können, hat die NATO für die Militärhaushalte der Mitgliedstaaten eine Schwelle von zwei Prozent der Wirtschaftsleistung als Mindestbetrag beschlossen; schon im vergangenen Jahr nahmen die Militäretats der europäischen NATO-Staaten und Kanadas um 8,3 Prozent zu.

Gewaltige Summen sollen auch weiterhin in die Aufrüstung der Ukraine gesteckt werden: Sicherheitsgarantien, die die G7-Staaten Kiew zusagten, sehen die fortgesetzte Bewaffnung des Landes im großen Stil vor. Sie enthalten zudem umfassende Hilfe zum Wiederaufbau. Eine feste Beitrittszusage von der NATO, die der ukrainische Präsident Selenski gefordert hatte, erhielt Kiew nicht.

Bogen um Rußlands Westen

Bekräftigt hat die NATO auf ihrem Gipfel in Vilnius ihr neues Streitkräftemodell (NATO Force Model), das bereits auf dem NATO-Gipfel vom 28. bis zum 30. Juni 2022 in Madrid beschlossen worden war. Demnach sollen 300.000 Soldaten aus NATO-Mitgliedstaaten stets in hoher Bereitschaft gehalten werden; 100.000 von ihnen sollen binnen zehn, 200.000 binnen 30 Tagen eingesetzt werden können.

Zentrale Elemente der Planung sind acht NATO-Battlegroups, die in einem weiten Bogen um Rußlands Westen liegen und deren Standorte von Estland, Lettland und Litauen über Polen, die Slowakei und Ungarn bis nach Rumänien und Bulgarien reichen. Sie können je nach strategischer Lage bis auf Brigadestärke aufgestockt werden. Die deutsche Bundeswehr wird künftig eine solche Brigade in Litauen stellen; dabei sollen die deutschen Soldaten nicht rotieren, sondern dauerhaft in dem Land stationiert sein.

»Operative
Kriegspläne«

In Vilnius hat die NATO zudem neue »Verteidigungspläne« beschlossen. Dabei handelt es sich laut einem NATO-Mitarbeiter um »operative Kriegspläne, die beschreiben, wie wir kämpfen wollen«, schreibt die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« am Mittwoch.

Berichten zufolge umfassen die streng geheim gehaltenen Pläne gut 4.000 Seiten. Sie sind in zweifacher Hinsicht aufgegliedert. Zum einen beziehen sie die fünf Dimensionen heutiger Kriegführung ein – Land, Luft, See, Welt- und Cyberraum. Zum anderen sind sie geografisch in drei riesige Regionen geteilt. Die erste von ihnen erstreckt sich von Nordamerika über den Atlantik und Britannien bis in den Hohen Norden; ihr zuständiges Hauptquartier liegt in Norfolk (USA-Bundesstaat Virginia).

Die zweite Region umfaßt Deutschland, das nördliche Europa und insbesondere die Ostsee und die an sie grenzenden Staaten; das zugehörige Hauptquartier befindet sich in Brunssum in den Niederlanden. Die dritte Region mit Hauptquartier in Neapel umfaßt Südeuropa vor allem mit dem Mittel- und dem Schwarzen Meer.

Wie berichtet wird, begann die Aufstellung der Pläne bereits im Jahr 2018, also lange vor Rußlands Eingreifen in den Krieg in der Ukraine. Nach dem formellen Beschluß in Vilnius, die neuen »Verteidigungspläne« umzusetzen, wird ab sofort mit den praktischen Vorbereitungen begonnen.

Immer mehr rüsten

Das neue Streitkräftemodell und die neuen »Verteidigungspläne« erfordern, wie die NATO konstatiert, eine massive Aufrüstung. Deshalb haben sich die NATO-Mitglieder in Vilnius verpflichtet, in Zukunft mindestens zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) in ihre Streitkräfte zu investieren, davon wiederum mindestens ein Fünftel in »größere Ausrüstung«. Zuweilen werde es erforderlich sein, mehr als zwei Prozent des BIP in den Militäretat zu stecken, heißt es in der Gipfelerklärung – nicht zuletzt deshalb, weil die NATO ihren »technologischen Vorsprung« sichern müsse.

Im laufenden Jahr haben aktuellen Angaben zufolge elf Bündnisstaaten die Zwei-Prozent-Schwelle bereits überschritten, darunter Griechenland (3,01 Prozent), die USA (3,49 Prozent) und Polen (3,9 Prozent). Die Bundesrepublik Deutschland zum Beispiel liegt bei 1,57 Prozent, muß schon jetzt bei der Kindergrundsicherung sparen, bekräftigt aber, den Militäretat um die erforderliche zweistellige Milliadensumme pro Jahr aufstocken zu wollen.

Um die gewünschte Aufrüstung sicherzustellen und nach Möglichkeit zu koordinieren, hat die NATO einen »Defence Production Action Plan« aufgestellt, auf den die Gipfelerklärung erneut hinweist. Er soll insbesondere die notwendigen »verteidigungsindustriellen Kapazitäten« zu schaffen helfen.

Kein NATO-Beitritt der Ukraine

Dominiert haben den NATO-Gipfel die erbittert geführten Auseinandersetzungen um die NATO-Perspektive der Ukraine. Durchgesetzt haben sich die USA und die Bundesrepublik Deutschland, die sich gegen eine feste Beitrittszusage, vor wie auch nach Kriegsende, positioniert hatten. In der Gipfelerklärung heißt es nun weitgehend unverbindlich, »die Zukunft« der Ukraine liege »in der NATO«.

Dazu wird auf die Erklärung des NATO-Gipfels vom April 2008 verwiesen, auf dem der Ukraine und Georgien grundsätzlich die NATO-Mitgliedschaft in Aussicht gestellt, aber nichts konkretisiert worden war; in den 15 Jahren seither ist die Ukraine einem Beitritt nicht wirklich nähergekommen. Um jeden Anschein eines etwaigen Beitrittsautomatismus zu meiden, heißt es in der Gipfelerklärung, man werde der Ukraine »eine Einladung« zukommen lassen, »wenn die Verbündeten zustimmen«.

Der Präsident der Ukraine, Wolodimir Selenski, hat öffentlich mit heftigem Unmut reagiert und der NATO »Unschlüssigkeit« und »Schwäche« vorgeworfen. Am Mittwoch haben die G7-Staaten Kiew als Ersatz für die ausgebliebene NATO-Beitrittszusage »Sicherheitsgarantien« zugesagt, die jeweils noch bilateral verbindlich formuliert werden sollen.

»Sicherheitsgarantien«

Im Detail sehen die »Sicherheitsgarantien« dreierlei vor. Zum einen soll die Ukraine mit aller Macht hochgerüstet werden. Dazu zählt die Lieferung von Panzern und Flugabwehr, von Artillerie »und anderen Schlüsselfähigkeiten«, heißt es in der »Gemeinsamen Erklärung über die Unterstützung der Ukraine«. Dies ist mit einer massiven Ausweitung der Rüstungsproduktion in den G7-Ländern verbunden. Zudem soll die rüstungsindustrielle Basis der Ukraine ausgebaut werden. Auch Militärausbildung und gemeinsame Manöver sollen intensiviert werden.

Zum zweiten soll die Ukraine »ökonomisch stabilisiert« und »widerstandsfähig« gemacht werden. Dazu gehört besonders der Wiederaufbau des kriegszerstörten Landes. Weithin wird dafür eine wohl dreistellige Milliardensumme veranschlagt.

Zum dritten stellen die G7 Kiew unmittelbare Unterstützung technischer wie auch finanzieller Art in Aussicht. Letzten Endes soll die Ukraine so in die Lage versetzt werden, sich gegen »einen künftigen erneuten Angriff« selbst zu verteidigen – als ein ausgeblutetes und verarmtes, aber waffenstarrendes Land.

Bemerkenswert ist, daß die G7 formal nichts mit der NATO zu tun haben, ebensowenig wir die Europäische Union, deren Kommissionschefin und Ratspräsident bei der Verkündung der »Gemeinsamen Erklärung über die Unterstützung der Ukraine« wie selbstverständlich anwesend waren.