Ausland05. Juli 2024

Deutsches Staatsgeschwurbel

Viele Unterstellungen und keine Belege: Der »Verfassungsschutzbericht 2023« wurde veröffentlicht

von Ralf Hohmann

Der frühere Finanzminister von Mecklenburg-Vorpommern, Mathias Brodkorb (SPD), sieht in ihm den »Volkspädagogen der Nation«. Wolfgang Kubicki von der FDP befürchtet, daß seine Chefin, »die sozialdemokratische Innenministerin, selbst zu einer Gefahr für die Demokratie wird« und fast jeder zweite (48 Prozent) Bundesbürger bekundet in einer Umfrage vom März 2024, daß das von ihm geführte Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) zu politischen Zwecken mißbraucht wird. Die Rede ist von Thomas Haldenwang, dem höchsten Wächter über »verbale und mentale Grenzverschiebungen«.

Angesichts der Vielfalt und Dramatik »innerer und äußerer Gefahren«, denen sich der deutsche Staat aktuell und zukünftig ausgesetzt sieht, könnte man fast Mitleid mit Herrn Haldenwang haben. Am 18. Juni stand das alljährliche Highlight zur Offenbarung des verfassungsfeindlichen Bedrohungsszenariums an, der Chef des Inlandsgeheimdienstes präsentierte zusammen mit Innenministerin Nancy Faeser (SPD) den »Verfassungsschutzbericht 2023«.

Vor den nur schwach besuchten Rängen der Bundespressekonferenz eröffnete der BfV-Chef die Bilanz des Schreckens: Eine Zunahme der »extremistischen Bedrohungen« im Inneren und allerorten »verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates« – ein Auffangbecken für alles, was sich unbotmäßige Bürger zur Lächerlichmachung und Verhöhnung des Systems einfallen lassen.

Josef Franz Lindner, Rechtsprofessor an der Universität Augsburg, merkt ironisch an, daß damit »die Kabarettisten ihrer Grundlage beraubt« werden. Delegitimierung sei nämlich kein Begriff der Verfassung, sondern eine schiere »Erfindung des Bundesamtes für Verfassungsschutz«.

Von außen drohen »Desinformationskampagnen« der »üblichen Verdächtigen« Rußland, China, Iran, dazu gesellt sich neuerdings auch das NATO-Mitglied Türkei. Abgerundet wird das Gemenge durch »Cyberangriffe und Spionage« russischer und chinesischer Dienste sowie das neue »phänomenübergreifende Sonderkapitel zu den Auswirkungen des Nahostkonflikts«, sprich: Palästina-Solidarität. Das BfV weiß nur zu genau: »Für dogmatische Linksextremisten ist die Palästina-Solidarität ein wesentliches und einander verbindendes Betätigungsfeld. Sie beinhaltet verschiedene Facetten bis hin zu Israelfeindschaft und Antizionismus.«

Nicht ohne Stolz in der Beamtenstimme verwies Verfassungsschützer Haldenwang auf das »beachtliche Volumen« seines 408 Seiten umfassenden Berichts, »ein Beleg für die enorme Arbeitsbelastung in allen Aufgabenbereichen des BfV«. Kennern der Materie zaubert diese Aussage indes eher ein Schmunzeln ins Gesicht, hat doch der Dienst mit immerhin 4.200 (offiziellen) Mitarbeitern es lediglich geschafft – bis auf einige textlich umgestellte Sätze und Weiterungen im Bereich »Cyber, Desinformation und Spionage« –, ein Reprint des Berichts von 2022 vorzulegen.

Neue Qualität gewinnen allerdings die Anwürfe der deutschen Schlapphüte gegen Investitionen Chinas in die deutsche Wirtschaft, denn diese »öffnen auch das Tor zu politischer Einflußnahme, Spionage und Sabotage«. Beileibe nicht genug: Chinesische Stellen verbreiten »Desinformation, um die Politik der Kommunistischen Partei Chinas in ein positives Licht zu rücken und die vermeintliche Überlegenheit des chinesischen Ordnungsmodells hervorzuheben».

Ganz gefährlich schließlich: Die »offene Informationsbeschaffung einschließlich eines Monitorings von Medien und sonstigen offenen Publikationen« – haben die doch tatsächlich die Dreistigkeit, deutsche Zeitungen zu lesen. Und Achtung: Hinter jedem Smalltalk mit einem Bürger Chinas lauert die »offene Gesprächsabschöpfung«. Eh man sich’s versieht, sind streng gehütete Geheimnisse des wirtschaftlichen Erfolgs der Bundesrepublik Deutschland, um den »uns« angeblich die ganze Welt beneidet, versehentlich preisgegeben. Müßig zu erwähnen, daß das fantasiestrotzende Anti-China-Kapitel jeden Tatsachenbeleg für die herabwürdigenden Thesen schuldig bleibt.

»Entsprechende Passagen im Bericht sind an Absurdität kaum zu übertreffen. Sie zeugen von einer feindseligen Besessenheit gegen China, die schon an Verfolgungswahn grenzt«, diagnostiziert die Botschaft der Volksrepublik China die Ursachen für Haldenwangs Märchenstunde. In den Schreibstuben des BfV sollte man sich den Deutschunterricht für Viertkläßler zum Vorbild nehmen: Ohne Tatsachen und Antworten auf die sieben »W-Fragen« ist es kein »Bericht«, sondern bloß Geschwurbel.