Leitartikel26. November 2022

Stiefkind der Bildungspolitik

von Alain Herman

Anlässlich ihrer Pressekonferenz zur Rentrée hatte das SEW/OGBL bereits darauf hingewiesen, dass die Berufsausbildung gleichsam das Stiefkind der Bildungspolitik bleibe. Nun hat die Gewerkschaft nachgelegt und ihre Verbesserungsvorschläge zusammen mit der AMELUX, der Vereinigung der Handwerkslehrer, konkretisiert.

Insbesondere die fast schon automatische Versetzung im nur drei Jahre andauernden Grundzyklus der Sekundarschule mündet in puncto Berufsausbildung in eine Sackgasse. Aufgrund einer Anhäufung von Wissens- und Fähigkeitslücken bleiben vielen Jugendlichen angestrebte Ausbildungswege versperrt. Mit geringer Motivation beginnen diese jungen Menschen dann eine gesellschaftlich noch immer stigmatisierte Handwerkslehre, die nicht selten wegen unzureichender Qualifikation, fehlender Lehrplätze, beruflicher Perspektivlosigkeit oder des Wissens um miserable Entlohnung abgebrochen wird. Kurzum: Es handelt sich um eine »Orientation par l’échec«.

Die beiden Gewerkschaften schlagen drei Reformen vor.

Zum einen müsste die Ausbildung der Handwerker um ein Jahr verlängert werden, wobei die Grundausbildung integral in der Schule stattfinden soll. In den drei folgenden Jahren könnte dann eine Aufteilung erfolgen, Praxiserfahrung soll im Betrieb gesammelt, theoretisches Wissen und praktische Kompetenz weiterhin in den Ateliers sowie Klassensälen der Schulen vermittelt werden.

Zum anderen müsste der Meisterbrief einem Bachelordiplom ebenbürtig sein. Schließlich gelte es, die Technikerausbildung aufgrund der hohen Theorielastigkeit wieder in den allgemeinen technischen Sekundarschulbereich einzugliedern.

Diese Reformvorschläge sind gut durchdacht, erfordern allerdings eine längere Planungsphase. Direkter Handlungsbedarf besteht auf anderen Ebenen. Informationschaos herrscht zum Beispiel bei der Aufklärung der Schüler vor. Sie werden im Vorfeld nur unzureichend über Arbeitsbedingungen und Karrieremöglichkeiten ins Bild gesetzt. Nur die Hälfte der in Luxemburg anerkannten Berufe kann hierzulande erlernt werden.

Ungerecht ist zudem, dass das für Ausbildung nötige Arbeitsmaterial nicht vergütet wird. Was steht darüber hinaus einer Vereinheitlichung und substanziellen Anhebung der Lehrgelder um 15 Prozent im Wege?

Und zu guter Letzt wird es höchste Zeit, dass eine Reform des Finanzierungssystems umgesetzt wird: Betriebe müssen entsprechend ihrer Größe ausbilden. Wer dies tut, wird vom Staat finanziell unterstützt, wer sich verweigert, wird dazu verpflichtet, in einen Ausbildungsfonds einzuzahlen.

Doch sogar die besten Bildungsreformen leisten keine Abhilfe, wenn die politisch-ökonomischen Bedingungen nicht stimmen, also ausschließlich nach kapitalistischen Kriterien funktionieren. Trockenschwimmübungen wirken nun mal nicht anziehend.

Anstatt Geld in Rekrutierungsanzeigen für die Luxemburger Armee zu pumpen, täte die Regierung besser daran, das Interesse bei Jugendlichen durch eine breit angelegte Werbekampagne für die verschiedenen Handwerksberufe zu fördern. Eine 15-prozentige Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns für qualifizierte Lohnabhängige würde den Handwerksberuf ebenfalls attraktiver gestalten.

Eine echte ökonomisch-soziale Umgestaltung im Interesse der Jugend und der schaffenden Menschen könnte indes nur durch die Nationalisierung und anschließende Vergesellschaftung von Schlüsselindustrien erreicht werden. Dergestalt könnten zahlreiche neue Lehrplätze, betriebseigene »Lehrbuden« und sogar neue Zulieferketten für die hiesigen Klein- und Mittelbetriebe geschaffen werden.