Gaza: Israels Spur der Verwüstung
Am 18. März hat die israelische Armee die vereinbarte Waffenruhe gebrochen und ihre Angriffe auf den palästinensischen Gazastreifen sogar noch intensiviert. Rund 70 Prozent des Gebietes werden inzwischen von israelischen Truppen kontrolliert. Die palästinensische Bevölkerung von mehr als zwei Millionen Menschen wird auf ein Gebiet von höchstens 30 Prozent zusammengetrieben.
In einer Analyse der International Crisis Group (ICG) heißt es, die erneute israelische Angriffswelle gegen Gaza sowie die Äußerungen von Politikern gäben Aufschluß darüber, welche Absichten Israel im Gazastreifen verfolge. Sollten diese Pläne weiterverfolgt werden können, bedeute das mehr Blutvergießen, heißt es in der Frage-Antwort-Analyse. Das bedeute, daß für die Zukunft mehr »Konflikte«, also mehr Kriege und mehr Verwüstung, zu erwarten seien.
Kontrollierte Pufferzonen
Für die Stadt Rafah im Süden gilt wie für weite Teile des Gazastreifens ein israelischer Evakuierungsbefehl. Laut Kriegsminister Israel Katz soll die Stadt mit dem Grenzübergang nach Ägypten eine von Israel militärisch kontrollierte Pufferzone werden. Dem Netzarim-Korridor im Zentrum des Gazastreifens werde der Morag-Korridor im Süden hinzugefügt. Damit wird das Gebiet weiter zerteilt. Den Palästinensern werde die »freiwillige Auswanderung« angeboten, erklärte Katz. Israel werde die Palästinenser »unterstützen«, die Gaza verlassen wollten. Ihre Rückkehr ist nicht vorgesehen.
Katz wies die unter kompletter Belagerung lebende palästinensische Bevölkerung erneut darauf hin, daß er ihnen die »letzte Chance« gebe, »die Hamas zu verjagen und alle Geiseln freizulassen«. Dann werde der Krieg aufhören, so Katz. Wenn nicht, so die Drohung, werde Israel den Krieg auf »fast das gesamte Territorium von Gaza ausweiten«.
Dokumentation der Verwüstung
Das UNO-Büro für die Koordinierung der humanitären Hilfe (OCHA) berichtete am 11. April, zwischen dem 18. März und dem 9. April habe die israelische Armee mindestens 224 Angriffe auf Wohnhäuser und Zelte verübt, in dem Binnenflüchtlinge untergebracht gewesen seien. Bei 36 dieser Angriffe seien ausschließlich Frauen und Kinder getötet worden, auch seien Frauen und Kinder die überwiegenden Opfer der israelischen Angriffe.
Soweit es möglich ist, dokumentieren die UNO-Organisationen in ihren Berichten jeden der Angriffe mit Ort, Zeitpunkt, Art des Angriffs und die Opferzahl. Unterstützt wird der OCHA von allen in dem Kriegsgebiet noch aktiven UNO- und Hilfsorganisationen, einschließlich des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Zum Beispiel wurde am 6. April das Wohnhaus der Familie Abu Issa in Deir al-Balah bombardiert. Dabei starben ein Mädchen, vier Frauen und ein vierjähriger Junge.
Nachweislich werden laut UNO auch die Orte von den israelischen Streitkräften bombardiert, die von der israelischen Armee selbst zuvor als »Rückzugsorte« für palästinensische Zivilisten ausgewiesen wurden, die zur Evakuierung aufgefordert worden waren. Dazu gehört beispielsweise das Gebiet von Al Mawasi in Khan Younis, heißt es im Bericht vom 11. April. Dort würden weiterhin die Zelte der Inlandsvertriebenen bombardiert und absichtlich in Brand gesetzt. Seit dem Bruch der Waffenruhe am 18. März seien mindestens 23 solcher Angriffe dokumentiert worden. Die Zahl der getöteten Palästinenser seit dem 18. März beträgt nach UNO-Angaben von Anfang April 1.560. Diese Zahl dürfte inzwischen veraltet sein.
Verbrechen gegen die Menschheit
Seit dem 2. März blockiert die israelische Armee zudem die Einfuhr von humanitärer und medizinischer Hilfe in das Kriegsgebiet. Es fehlt an Nahrungsmitteln, Benzin für Generatoren, um Strom zu erzeugen und Wasseraufbereitungsanlagen zu betreiben, es fehlt an Medikamenten für chronisch Kranke und an Impfstoff für die Kinder. Der Sprecher des Generalsekretärs der UNO, Stéphane Dujarric, betonte, im Fall, daß die Bevölkerung eines besetzten Territoriums nicht ausreichend mit Hilfsgütern versorgt werde, sei »die Besatzungsmacht« nach dem internationalen humanitären Recht »verpflichtet, (….) alles in ihrer Macht stehende zu tun«, um diese Bevölkerung in dem von ihr »besetzten Territorium« mit Hilfsgütern zu versorgen. Das Gegenteil ist der Fall.
In einem Bericht des Menschenrechtsbüros der UNO heißt es, seit dem 18. März habe Israel 21 sogenannte Evakuierungsanordnungen verkündet. Ende März sei davon fast das gesamte Gebiet von Rafah im Süden des Gazastreifens betroffen gewesen, während die israelische Armee nahezu zeitgleich eine massive Bodenoffensive gestartet habe. Zehntausende Zivilisten seien in verschiedenen Teilen Rafahs eingesperrt worden. Hilfsorganisationen erhielten keinen Zugang.
Zwar könne Israel als Besatzungsmacht die »zeitweilige Evakuierung« der Zivilbevölkerung anordnen, heißt es in dem Bericht des UNO-Menschenrechtsbüros. Was allerdings aktuell geschehe, lasse den Schluß zu, daß Israel plane, die Bevölkerung aus den Gebieten (Rafah) »zu beseitigen«, um dort eine Pufferzone einzurichten. Das sei eine »Zwangsvertreibung« und ein schwerer Bruch der vierten Genfer Konvention. Nach dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) gelte das als Menschheitsverbrechen.
Opferzahl steigt im Minutentakt
Korrespondenten des katarischen Nachrichtensenders Al Jazeera berichteten am Dienstagmorgen, daß in den frühen Morgenstunden erneut Dutzende Menschen infolge israelischer Angriffe getötet wurden. Mindestens elf Menschen verbrannten in einem Haus in Khan Younis. Nachdem die israelische Armee das Haus mehrfach bombardiert hatte, war das Haus in Flammen aufgegangen. Sieben Angehörige einer Familie wurden bei einem Luftangriff auf das Haus getötet, in dem sie im westlichen Teil von Gaza-Stadt Schutz gesucht hatten. Fünf Personen – Ehemann, Ehefrau und drei Kinder – wurden in einem Zelt getötet, wo sie im Jabalia-Flüchtlingslager Zuflucht gesucht hatten.
In einer Garage der Verwaltung von Jabalia zerstörte die israelische Armee Lastwagen und Bulldozer. Die Fahrzeuge waren im Einsatz, um die Trümmer der vorherigen israelischen Angriffe auf das Flüchtlingslager zu beseitigen. Die israelische Armee verhinderte zudem, daß Fahrzeuge des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz Menschen erreichen konnten, die nördlich von Rafah festsaßen. Sie waren zuvor von der israelischen Armee aufgefordert worden, ihre Wohnorte in Rafah zu verlassen, wurden dann aber von der Armee festgesetzt. Das IKRK hatte versucht, den Familien zu helfen, die von Israel besetzten Gebiete zu verlassen. Die ganze Nacht (von Montag auf Dienstag) seien zudem laute Explosionen zu hören gewesen, berichteten die palästinensischen Korrespondenten. Die israelische Armee sprenge systematisch Wohnhäuser im Ostteil von Gaza-Stadt in die Luft.
Im Minutentakt kommen neue Meldungen von Angriffen und neue Todeszahlen hinzu. So stieg die Zahl der Toten am Dienstagvormittag von zunächst elf auf 25. Zwei Menschen starben bei einem israelischen Drohnenangriff im Süden des Gazastreifens. Der junge Arzt Majed Nasr Ismail wurde bei einem weiteren israelischen Angriff in Deir el-Balah getötet, berichteten palästinensische Nachrichtenagenturen. Nach Angaben der palästinensischen Gesundheitsbehörde in Gaza wurden seit Beginn des Krieges im Oktober 2023 mehr als 1.060 Ärzte und Pflegepersonal in Gaza getötet.
Friedhöfe der Nachrichten
Pierre Lazzarini, der Leiter des UNO-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) wies erneut darauf hin, das seit Beginn des Krieges vor anderthalb Jahren im Oktober 2023 die israelischen Behörden internationalen Medien und Journalisten den Zugang nach Gaza verbieten. Das fördere Propaganda, Falschinformationen und die »Ausbreitung der Entmenschlichung«. Palästinensische Journalisten leisteten weiterhin eine heldenhafte Arbeit, wofür sie einen hohen Preis zahlen müßten. Nach Angaben Lazzarinis seien seit Beginn des Krieges 170 Journalisten getötet worden. Glaubwürdige Berichte und Augenzeugenaussagen der Hilfsorganisationen würden gleichzeitig in Frage gestellt und diskreditiert. Der freie Zugang zu Informationen und unabhängigen Berichten seien jedoch »der Schlüssel«, um »Tatsachen und Rechenschaftspflicht« sicherzustellen. Gaza dürfe keine Ausnahme sein, so Lazzarini. Es sei mehr als überfällig, daß die internationale Presse freien Zugang nach Gaza erhalte.
Nach Angaben des Projekts »Die Kosten des Krieges«, das seit dem Jahr 2001 am Watson Institut der Brown Universität in Rhode Island/USA durchgeführt wird, starben in keinem Krieg so viele Journalisten wie in diesem. In dem Bericht »Friedhöfe für Nachrichten: Wie Gefahren für Kriegsreporter die Welt gefährden« vergleichen die Wissenschaftler die Zahlen getöteter Journalisten seit dem US-amerikanischen Bürgerkrieg (1861-65), über die beiden Weltkriege, den Vietnamkrieg, die Kriege gegen Jugoslawien, Afghanistan, Ukraine bis zum Gazakrieg seit 2023. Danach starben in letzterem 232 Journalisten und Medienschaffende. Das sind mehr als in allen vorangegangenen Kriegen zusammen.