»Rußland ruinieren«
EU bleibt größte Abnehmerin russischen Flüssiggases, zahlt dafür mehr als für Pipelinegas. Rußlands Wirtschaft wächst, westliche Sanktionen sind gescheitert
Der Versuch der EU, auf die Einfuhr russischen Öls zu verzichten, ist gescheitert. Neue Branchenstatistiken zeigen, daß die Menge der Mineralölerzeugnisse, die zum Beispiel die Bundesrepublik Deutschland aus Indien bezieht, in den ersten sieben Monaten 2023 auf mehr als das Zwölffache des Vorjahreswerts in die Höhe geschnellt ist. Indien wiederum konnte seinen Export nur steigern, weil es die Einfuhr russischen Erdöls massiv ausgeweitet hat.
Zudem nimmt die EU, während die Einfuhr kostengünstigen russischen Pipelinegases massiv reduziert wurde – auch wegen der Zerstörung der »Nord Stream«-Pipelines –, mehr als die Hälfte des teureren russischen Flüssiggases ab. Zugleich erholt sich die russische Wirtschaft und verzeichnet neues Wachstum.
Rußlands Wirtschaft wächst
Daß die russische Wirtschaft sich nach dem Sanktionsschock vom Frühjahr 2022 wieder im Aufwind befindet, hatten bereits die jüngsten Prognosen des Internationalen Währungsfonds (IWF) bestätigt. Der IWF hob im Juli seine Schätzung für Rußlands Wirtschaftswachstum im Jahr 2023 von 0,7 auf 1,5 Prozent an. Damit liegt das Land exakt auf Augenhöhe mit den Wachstumserwartungen der westlichen Industrieländer, die der IWF ebenfalls auf 1,5 Prozent taxiert. Schlecht kam mit einem Schrumpfen seiner Wirtschaftsleistung um rund 0,3 Prozent vor allem Deutschland weg.
Rußlands Wirtschaft wächst freilich nicht branchenübergreifend. Eine herausragende Rolle spielt derzeit die Rüstungsindustrie, die auf Hochtouren läuft. Vor allem ihr ist es zu verdanken, daß die russische Industrieproduktion im ersten Halbjahr 2023 mit 2,6 Prozent überdurchschnittlich zugenommen hat. Auch der Einzelhandel hat zum Teil kräftig zugelegt – dies insbesondere in Regionen, in denen Rüstungsindustrie angesiedelt ist oder Soldaten stationiert sind. Nicht zuletzt wächst die Bauwirtschaft deutlich stärker als andere Branchen, unter anderem, weil der Wiederaufbau in den annektierten ukrainischen Territorien, die oft starke Kriegszerstörungen aufweisen, energisch vorangetrieben wird.
Weg von Europa, hin nach Asien
Rußlands Außenhandel wächst gleichfalls wieder. Wie das Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW) in der vergangenen Woche mitteilte, stieg die Menge der Waren zuletzt, die in den drei größten russischen Containerhäfen gelöscht wurde. Bei den Häfen handelt es sich um Sankt Petersburg an der Ostsee, Wladiwostok am Pazifik und Noworossijsk am Schwarzen Meer. Vor allem in Sankt Petersburg war der Import von Containern im vergangenen Jahr um bis zu 90 Prozent eingebrochen. In den vergangenen Wochen stieg das Volumen der eingeführten Waren in den drei Häfen laut dem IfW »sprunghaft« an und näherte sich im August wieder »den Werten von vor Ausbruch des Krieges«.
Woher die importierten Güter stammten, sei »nicht zweifelsfrei zu bestimmen«, konstatiert IfW-Experte Vincent Stamer. Doch scheine Rußland »wieder mehr und mehr am Welthandel teilzuhaben«. Dabei verschieben sich die Handelsströme in hohem Tempo – weg von Europa, hin nach Asien. So brach der einst starke russisch-deutsche Handel in den ersten vier Monaten des Jahres 2023 um 75 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum auf nur 5,5 Milliarden Euro ein. Im selben Zeitraum schnellte der russisch-chinesische Handel um 41 Prozent auf 73 Milliarden US-Dollar in die Höhe. Der russisch-indische Handel stieg gar um das Vierfache und erreichte 21,8 Milliarden US-Dollar.
Gescheiterte Sanktionen
Die Wachstumszahlen bestätigen: Die russische Wirtschaft hat sich vom zunächst heftigen Schock des Wirtschaftskriegs, den die westlichen Staaten unmittelbar nach Rußlands Angriff in der Ukraine entfesselten, zumindest in wichtigen Branchen erholt. Noch am 25. Februar 2022, gleich nach der Verhängung der ersten umfassenden Sanktionen, hatte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock selbstgewiß erklärt, diese würden zweifelsohne »Rußland ruinieren«. In einem Interview dazu befragt, äußerte Baerbock nun im vergangenen Monat: »Eigentlich hätten wirtschaftliche Sanktionen wirtschaftliche Auswirkungen. Das ist aber (im Fall Rußland, d. Red.) nicht so.«
Über die Ursache erklärte die grüne Außenministerin am 24. August im ZDF: »Weil eben die Logiken von Demokratien nicht in Autokratien greifen.« Welche »Logiken« das sein sollen und wieso man ihr Scheitern nicht habe vorhersehen können, wo doch Rußland im Westen, auch von Baerbock, schon seit langem als »Autokratie« bezeichnet wird, erläuterte die Ministerin nicht. Stattdessen fuhr sie, nicht wirklich klarer, fort: »Wir haben erlebt, daß mit rationalen Entscheidungen, rationalen Maßnahmen, die man zwischen zivilisierten Regierungen trifft, dieser Krieg nicht zu beenden ist.«
Teurer Verzicht
Zusätzlich zu den »Logiken« der Außenministerin werfen aktuell die Bemühungen Berlins, von russischen Energieträgern unabhängig zu werden, neue Fragen auf. Nicht alle westlichen Staaten, die Sanktionen gegen Rußland verhängt haben, verzichten auf dessen Rohstoffe. So stammt weiterhin rund ein Drittel des Urans, das die USA für ihre Atomkraftwerke nutzen, aus Rußland; USA-Konzerne zahlen jährlich rund eine Milliarde US-Dollar dafür, berichtete die »New York Times« am 21. Juni.
Die japanischen Konzerne Mitsui und Mitsubishi haben regelmäßig bestätigt, sie würden ihren 22,5 Prozent-Anteil an dem russischen Erdgasförderprojekt Sachalin 2 behalten: Das sei notwendig, weil Japan neun Prozent seines Flüssiggases von dort beziehe.
Die Versuche Deutschlands und der EU, auf Kohle, Erdöl und Erdgas aus Rußland so weit wie möglich zu verzichten, haben die Energiepreise stark in die Höhe getrieben und dennoch ihr Ziel nicht erreicht. So erwarben EU-Mitgliedstaaten, seit Brüssel die Einfuhr russischen Erdöls per Schiff untersagte, rund 8 Prozent aller russischen Ölexporte, insbesondere aber 53 Prozent aller russischen Flüssiggasausfuhren. Hinzu kommt, daß Deutschland heute gut zwölfmal so viel Mineralölerzeugnisse aus Indien bezieht wie im Vorjahr; diese wurden wohl aus russischem Öl hergestellt. Der Wert stieg von 37 Millionen Euro von Januar bis Juli 2022 auf rund 451 Millionen Euro im gleichen Zeitraum 2023. Die Profite teilen sich russische und indische Konzerne.
Ölpreisdeckel gescheitert
Zugleich ist der Versuch, Rußlands Einnahmen aus dem Ölexport mit einem Ölpreisdeckel zu drücken, gescheitert. Die G7 und die EU hatten Ende vergangenen Jahres beschlossen, westliche Unternehmen dürften russisches Erdöl künftig nur dann transportieren und die Transporte nur dann versichern, wenn der Rohstoff nicht mehr als 60 US-Dollar pro Barrel koste. Hieß es zunächst noch, der Plan gehe auf, so zeigen aktuelle Berichte, daß der Ölpreisdeckel nicht funktioniert.
Lag der Weltmarktpreis für die russische Erdölsorte Urals noch im Juni zwischen 54 und 56 US-Dollar pro Barrel, so ist er inzwischen auf bis zu 74 US-Dollar pro Barrel gestiegen. In Ostasien wurden bereits vor Monaten deutlich mehr als 60 US-Dollar pro Barrel Urals gezahlt. Entsprechend sind die russischen Einnahmen aus dem Ölexport wieder erheblich gewachsen. Auch diesbezüglich haben die westlichen Mächte ihr Ziel klar verfehlt.