Leitartikel05. September 2024

Provokationen in der Taiwanstraße



Als der deutsche Kaiser Wilhelm II. im Jahr 1900 eine Koalition der Willigen zur Niederschlagung des im Westen »Boxeraufstand« genannten Aufstands der Chinesen gegen koloniale Unterdrückung aufstellte, fanden sich England, das zaristische Rußland, die USA, Japan, Frankreich, Österreich-Ungarn und Italien sowie die Niederlande, Belgien und Spanien in seltener Eintracht zu einer »internationalen Strafexpedition« zusammen, die unter anderem »Vergeltung« für die Erschießung eines deutschen Gesandten bei der Belagerung des Diplomatenviertels in Beijing üben sollte. Dem brutalen Kolonialkrieg gegen China fielen Schätzungen zufolge 100.000 bis 300.000 Menschen zum Opfer.

Bei der Verabschiedung der 15.000 deutschen Soldaten hatte Kaiser Wilhelm II. seine »Hunnenrede« gehalten – mit dem berühmt-berüchtigten Befehl: »Kommt ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen! Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht!«. Weniger bekannt ist, wie Wilhelm II. die Entsendung des »Expeditionskorps« begründet hatte: »Die Chinesen haben das Völkerrecht umgeworfen, sie haben in einer in der Weltgeschichte nicht erhörten Weise der Heiligkeit des Gesandten, den Pflichten des Gastrechts Hohn gesprochen. Es ist das umso empörender, als dies Verbrechen begangen worden ist von einer Nation, die auf ihre uralte Kultur stolz ist.«

Im Zuge der »feministischen Außenpolitik« Annalena Baerbocks hat Deutschland vor wenigen Tagen wieder Kriegsschiffe gen China geschickt. Bislang läßt das grün geführte Außenministerium offen, ob die Fregatte »Baden-Württemberg« und das Versorgungsschiff »Frankfurt« die völkerrechtlich zur Volksrepublik China gehörende Straße von Taiwan tatsächlich durchfahren werden.

Das hatte erst im August der US-amerikanische Lenkwaffenzerstörer »USS Ralph Johnson« getan, um – wie die USA-Kriegsmarine anschließend erklärte – Washingtons »Verpflichtung« deutlich zu machen, »das Prinzip der Freiheit der Schiffahrt für alle Nationen zu verteidigen«. Solche Durchfahrten, hieß es weiter, sollten den Status der Straße von Taiwan als »internationales Gewässer« festigen.

Doch völkerrechtlich ist die Insel Taiwan ein Teil der Volksrepublik China und in der Straße von Taiwan ist die Freiheit der Hohen See für andere Staaten entsprechend eingeschränkt. Im Wettstreit mit Beijing fördert Washington jedoch eine Abspaltung der Insel vom Festland, und auch Baerbocks ebenfalls grüner Staatsminister Tobias Lindner hat jüngst bei einem Besuch in Tokio krakeelt, Berlin sei »nicht verpflichtet«, die chinesische Regierung um Erlaubnis zu fragen, wenn es Kriegsschiffe durch die Meerenge zwischen der chinesischen Provinz Fujian und der Insel Taiwan fahren lassen wolle. Es handle sich um »internationale Gewässer« und Berlin beteilige sich daran, die »wertebasierte Ordnung« zu verteidigen.

Der Umweg über Letztere ist deshalb nötig, weil das Völkerrecht die deutsche Auffassung nicht stützt. Selbst wenn es stimmen sollte, daß eine Mehrheit der Chinesen auf Taiwan eine Unabhängigkeit der Insel vom Mutterland befürwortet, ist eine Unabhängigkeit wegen mangelnder ökonomischer und politischer Freiheiten im Völkerrecht nicht vorgesehen. Aus gutem Grund ist dort allein das Selbstbestimmungsrecht einer Nation ohne Staat verbürgt.

Man stelle sich die Sache umgekehrt vor: Die Balearen hätten sich unabhängig von Spanien erklärt, und zum Schutz Mallorcas würde die Volksrepublik China Kriegsschiffe ins westliche Mittelmeer verlegen. Vermutlich wären sich die der »wertebasierten Ordnung« verpflichteten Regierungen schnell einig, daß es sich um eine inakzeptable Provokation handelt.