Ein Land wird ausgeblutet
Noch harren auf dem Flughafen von Kabul und in dessen Umgebung tausende Menschen aus, in der Hoffnung, irgendeinen Flug in den gelobten Westen zu erwischen, am liebsten wohl in die USA, die ihnen in den letzten 20 Jahren als »Hort der Freiheit und Demokratie« angepriesen wurden. Über die Grenze nach Pakistan fliehen täglich mehr als 10.000 Afghanen. Und die EU-Chefin fordert »sichere Fluchtwege« – während Polen und Estland Grenzzäune errichten, um sich vor Flüchtlingen zu schützen, die vorwiegend aus Afghanistan und dem Irak kommen.
Der Irrsinn dieser ganzen Aktion hat viele Facetten. Deren wichtigste dürfte wohl sein, daß sämtliche »Verfechter der Menschenrechte«, die jetzt pausenlos die »Rettung« möglichst vieler Menschen aus Afghanistan fordern, keinerlei Vorstellung haben, was mit den »Geretteten« geschehen soll.
Sicher sind unter ihnen einige Tausend mit einer guten Ausbildung, die in den Ländern, die ihnen Asyl gewähren, den dortigen Unternehmen nützlich sein können. Die Kehrseite ist allerdings, daß genau diese Menschen fehlen, wenn es darum geht, das Land Afghanistan nach 20 Jahren NATO-Krieg wieder aufzubauen. Sie werden auch fehlen, wenn es darauf ankommt, die Taliban und die sich mit ihnen verbündenden Warlords nicht allein die künftige Entwicklung des Landes bestimmen zu lassen.
Unter den jetzt ausgeflogenen Afghanen sind ganz sicher viele, die in den Monaten, Wochen und Tagen vor dem 16. August mit vielen Abschiebeflügen aus westlichen Ländern in das Land am Hindukusch zurückbefördert worden waren, und die nun erneut auf der Matte stehen und erstmal nicht wieder abgeschoben werden können.
Irrsinn ist auch, Anschläge und neue Todesopfer geradezu herbeizureden. In London wurde am Donnerstag »gemeldet«, ein Anschlag stehe »in den nächsten Stunden« bevor. Das erinnert fatal an die »Vorhersage« eines früheren britischen Premierministers, Raketen mit Nuklearsprengkopf aus dem Irak könnten »binnen Stunden Europa erreichen«.
Vor allem: Ein sehr großer Teil dieser Menschen, die nun in den USA, in Europa oder sonst wo stranden, unterscheiden sich in nichts von jenen, die seit Jahren auf der Flucht sind und vor denen sich zum Beispiel die EU so gerne schützen will. Hier zeigt sich erneut, daß man nichts gelernt hat und nicht bereit ist, aus den Fluchtbewegungen der früheren Jahre etwas über die eigentlichen Fluchtursachen zu lernen. Die sind nämlich vorrangig in Kriegen und schweren Krisen zu finden. Will man Massenflucht verhindern oder eindämmen, muß man zunächst genau diese Ursachen abschaffen – das allerdings widerspricht dem Charakter der Gesellschaft, in der Profit der Maßstab aller Dinge ist.