Mehr Demokratie wagen!
»Vom Standpunkt der ökonomischen Bedingungen des Imperialismus, d.h. des Kapitalexports und der Aufteilung der Welt durch die ‚fortgeschrittenen‘ und ‚zivilisierten‘ Kolonialmächte, sind die Vereinigten Staaten von Europa unter kapitalistischen Verhältnissen entweder unmöglich oder reaktionär.« Dies schrieb der vor 100 Jahren verstorbene marxistische Revolutionär Lenin mitten im Ersten Weltkrieg. Lenin nahm in seiner historisch-materialistischen Analyse das undemokratische Wesen der heutigen Europäischen Union vorweg. Die EU-Wahlen erweisen sich trotz anderslautender Beteuerungen keinesfalls als grunddemokratisches Unterfangen.
Das 1979 aus der Parlamentarischen Versammlung der Montanunion hervorgegangene EU-Parlament verfügt zwar über 705 hoch dotierte Parlamentarier, doch deren politische Einflussnahme tendiert im Vergleich zu derjenigen der EU-Kommission gen Null. Dieses Parlament hat keine Befugnisse, eine EU-»Regierung« zu wählen, die Kommissare werden vom Europäischen Rat bestimmt, dem Gremium der Staats- und Regierungschefs, das zudem über die »Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik« entscheidet – in zunehmend katastrophalem Ausmaß. Die Parlamentarier dürfen sich damit begnügen, die Kommissare zu befragen. Gesetzesvorschlägen können sie zustimmen und bei Ablehnung höchstens um neue bitten. Über das Gesetzgebungsinitiativrecht verfügt nur die Kommission, die mit ihren Liberalisierungsbeschlüssen seit Dekaden die nationale Gesetzgebung in Mitgliedstaaten ausgehebelt hat. Damit werden sowohl die bürgerlichen Demokratien dieser Staaten bevormundet, als auch Errungenschaften der Arbeiterbewegung torpediert.
Entscheidend sind im legislativen Prozess die gänzlich undemokratisch besetzten 150 Arbeitsgruppen des EU-Rates, zu denen die Lobby- und Branchenverbände der Industriekonzerne, Banken, Versicherungsgesellschaften und Medienunternehmen Zugang haben. Die 25.000 registrierten Lobbyisten verfügen nicht nur über gute Kontakte zum Rat und zur Kommission; »Arbeitsessen« mit den »Volksvertretern« der EU gehören ebenfalls zum politischen Alltag. Dass die Vertreter von Gewerkschaften, Umweltschutz- und Konsumentenschutzorganisationen, die also nicht im Sinne einer wirtschaftlichen Elite agieren, sondern die Interessen der arbeitenden Menschen verteidigen in Brüssel auch als »Lobbyisten« abgetan werden, spricht Bände über den Charakter dieses supranationalen Gebildes. Personell und finanziell spielen diese »Lobbyisten« aber sowieso nur eine marginale Rolle – eine Gegenmacht bilden sie auf EU-Ebene keinesfalls.
Umso wichtiger ist es, auf die Bedeutung und das politische Potential der Sozialwahlen hinzuweisen. Medial werden sie bewusst stiefmütterlich behandelt. Dabei sind für die demokratische Bestimmung der Personaldelegationen in Betrieben mit mehr als 15 Angestellten sowie für die Wahl der 60 gewerkschaftlichen Vertreter in der Salariatskammer (CSL) rund 650.000 Menschen stimmberechtigt, von denen eine Mehrheit mit ihrer Hände und Köpfe Arbeit ökonomischen Mehrwert und gesellschaftlichen Reichtum erschafft! Zu ihnen gehören auch 16-jährige Lohnempfänger, sowie Rentner und Arbeitslose.
Der CSL müsste allerdings neben der rein beratenden und repräsentativen Funktion zumindest im arbeitsgesetzlichen Bereich das legislative Initiativrecht zugesprochen werden. Darüber hinaus müssten die Befugnisse der Betriebsräte durch eine Reform des Streikrechts, einschließlich der Möglichkeit von Warnstreiks, gestärkt werden. Dies wären richtige Schritte hin zu einer Ausweitung echter demokratischer Mitbestimmung und einer partiellen Demokratisierung der Wirtschaft in Luxemburg. Was bieten uns diesbezüglich die sechs EU-Abgeordneten?