Souveränität und Wiederaufbau oder Krieg und Almosen?
Syrien als Schauplatz des Kampfs um eine multipolare Weltordnung
Die Lage in Syrien bleibt angespannt. Die Regierung sieht sich gezwungen, Subventionen auf Benzin, Öl und Diesel abzubauen, die Kosten für Transport- und Nahrungsmittel schießen in die Höhe, die Bevölkerung steht vor neuen Härten in der Grundversorgung, das syrische Pfund verliert weiter an Wert. Die Gehälter für Ärzte, Lehrer, Armeeangehörige, staatliche Angestellte und Beamte werden verdoppelt, doch die Menschen stehen unter Schock.
Proteste in verschiedenen Landesteilen machen die Regierung für die wirtschaftliche Not verantwortlich. In Sweida, der Hauptstadt der Drusenprovinz im Süden des Landes, räumte der Gouverneur bei einer öffentlichen Kundgebung am Donnerstag ein, die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung sei sehr ernst und die Regierung arbeite daran, Lösungen zu finden.
Mazen M., Übersetzer aus Damaskus, bezeichnet gegenüber der Autorin die Forderungen als »nachvollziehbar«. Die Versorgungslage sei sehr schlecht und das Leben sehr teuer geworden. Nicht nur in Sweida, auch in Vororten von Damaskus habe es Proteste mit »einigen Hundert Menschen« gegeben. Obwohl in Vororten wie Jaramana und Sehnaya rund 250.000 Drusen lebten – die Hälfte der drusischen Bevölkerung in Syrien – hätten dort keine Drusen an den Protesten teilgenommen. Alles sei ruhig geblieben, Auseinandersetzung habe es nicht gegeben.
In Sweida habe es Parolen gegen die Regierung und gegen den Präsidenten Assad gegeben, die aber einen »separatistischen Hintergrund« hatten. Diesen Leuten sei es nicht um die Versorgungslage gegangen, sagte der Gesprächspartner, sondern sie wollten Stimmung gegen die Regierung machen. Ein Bild des Präsidenten sei nicht verbrannt worden, das sei eine Falschmeldung, die von syrischen oppositionellen Webseiten verbreitet worden sei und auch von der Deutschen Presseagentur übernommen wurde.
Suche nach Auswegen
In Kairo sucht der »Verbindungsausschuß Syrien« bei der Arabischen Liga – bestehend aus Ägypten, Saudi-Arabien, Irak, Jordanien, Libanon, Syrien und dem AL-Generalsekretär – nach einem Ausweg aus der wirtschaftlichen Krise in Syrien.
Israel greift unter ständigem Bruch des Völkerrechts weiter militärische Stützpunkte in Syrien an, die Türkei führt einen tödlichen Drohnenkrieg gegen die kurdisch geführten »Syrischen Demokratischen Kräfte« (SDF). Restverbände des »Islamischen Staates« überfallen und ermorden im Osten des Landes syrische Soldaten. Von der Türkei gesponserte Kampfverbände von »Hayat Tahrir al-Sham« (Allianz zur Befreiung der Levante, HTS) beschießen die syrische Zivilbevölkerung jenseits von Idlib, ihrem Einflußgebiet im Nordwesten Syriens. Russische Kampfjets bombardieren »HTS« Stellungen und Waffenlager unter Verweis darauf, daß »HTS« keine »Rebellengruppe« ist, wie in westlichem Meldungen behauptet wird, sondern eine von der UNO gelistete Terrororganisation. Im Himmel über Syrien fordern sich Rußland und die USA mit Drohnen und Kampfjets gegenseitig bei »Mutproben« heraus.
Blockaden im Sicherheitsrat
Am Montag stand in einer »privaten Sitzung« des Sicherheitsrates der UNO erneut die humanitäre Situation in Syrien auf der Tagesordnung. Die anschließende Beratung fand hinter verschlossenen Türen statt. In Vorbereitung auf das »private Treffen« des UNO-Gremiums erhielten Journalisten Hintergrundinformationen. Brasilien und die Schweiz, die im Sicherheitsrat die »Federführung« für das »Humanitäre Syrien-Dossier« halten, hätten die Sitzung beantragt. Beide Staaten hatten im Juli vergeblich einen Resolutionsentwurf für die grenzüberschreitende Hilfe aus der Türkei durch den Grenzübergang Bab al-Hawa in den Nordwesten der syrischen Provinz Idlib vorgelegt. Rußland legte ein Veto gegen eine Verlängerung von neun Monaten ein. Die USA, Britannien und Frankreich lehnten die von Rußland vorgeschlagene Verlängerung von sechs Monaten ab.
Inzwischen hat die UNO sich direkt mit der syrischen Regierung auf eine sechsmonatige Verlängerung des Grenzübergangs Bab al-Hawa geeinigt, der in das von »HTS« kontrollierte Gebiet führt. Zwei weitere Grenzübergänge, die mit Zustimmung der syrischen Regierung nach dem Erdbeben in Betrieb genommen wurden, sollen zunächst bis November geöffnet bleiben.
Bei dem »privaten« Treffen des Sicherheitsrates am Montag sollte »in einem offenen Austausch« mit dem Leiter des UNO-Nothilfeprogramms (OCHA), Martin Griffiths, über »Einzelheiten der UNO-Syrien-Vereinbarung« gesprochen werden, hieß es. Syrien und die Türkei seien zu dem Treffen eingeladen.
Die Ständigen Sicherheitsratsmitglieder USA, Britannien und Frankreich wollen Syrien im Bereich der grenzüberschreitenden humanitären Hilfe weiterhin der Kontrolle des UNO-Sicherheitsrates unterwerfen. Rußland und China, die ebenfalls Ständige Mitglieder sind, betrachten diesen Mechanismus als Ausnahmeregel und wollen ihn einstellen.
Syrer im Schockzustand
Beobachter vor Ort berichten von der syrischen Gesellschaft »im Schockzustand«. Wer Arbeit habe, verdiene nicht mehr als monatlich 300.000 Syrische Pfund (20 US-Dollar). 90 Prozent der Menschen lebten unter der Armutsgrenze.
2022 sei Syrien am Boden gewesen, berichtet ein in Damaskus lebender Gesprächspartner, der in Syrien ausländische Hilfsorganisationen berät. Das Erdbeben Anfang 2023 habe »Löcher in den Boden« geschlagen, und jetzt sinke Syrien immer tiefer. Die »westliche Gemeinschaft«, die Türkei und Katar sollten ihre Haltung gegenüber Syrien ändern, so der verzweifelte Appell. »Kehrt zur Menschlichkeit zurück. Stoppt die Sanktionen. Stoppt die Finanzierung und Unterstützung der Hardliner-Opposition und kehrt zu einer ehrlichen Diplomatie zurück. Verhandelt Frieden für Syrien, damit die Syrer wieder in Würde leben und mit dem Wiederaufbau ihrer Heimat beginnen können. Reicht den Syrern die Hand anstatt sie zu ersticken.«
Die einseitigen Sanktionen von EU und USA verhindern den Import wichtiger technischer, elektronischer und medizinischer Ersatzteile, die für den Wiederaufbau dringend gebraucht werden. Sie blockieren auch die Hilfe durch andere Staaten, wie die Arabische Liga sie angekündigt hat. Einseitig verhängte Sanktionen verletzen zudem die UNO-Charta und Internationales Recht, weil nur der UNO-Sicherheitsrat solche schwerwiegenden Eingriffe in die Wirtschaft eines souveränen Staates vornehmen darf.
USA-Truppen, die sich ebenfalls unter Bruch des Völkerrechts im Nordosten des Landes im Bereich der syrischen Ölfelder aufhalten, plündern seit Jahren syrisches Öl, das ebenso wie Baumwolle und Weizen illegal in den Nordirak transportiert und dort verkauft wird.
»Am Rande einer direkten Konfrontation«
Die USA geraten in Syrien zunehmend unter Druck. Angriffe von syrisch-irakisch-iranischen Milizen auf die illegalen USA-Basen haben zugenommen. Das Pentagon hat die nach offiziellen Angaben 900 Soldaten inzwischen auf mehr als 1.000 aufgestockt, unweit des syrischen Konico-Ölfelds (Deir Ez-Zor) wurden Mehrfachraketenwerfer-Systeme HIMARS stationiert und F-22-Kampfjets wurden einsatzbereit gemacht. Russische Kampfflugzeuge, die sich mit den USA-Maschinen immer häufigere »Mutproben« liefern, befanden sich allein im Juli elfmal im Zielbereich der automatischen Abwehrsysteme US-amerikanischer Kampfjets.
Militärische Beobachter sprechen von einer Situation »am Rande einer direkten Konfrontation«, zumal eine ursprüngliche Vereinbarung zwischen Rußland und den USA, sich in Syrien »aus dem Weg zu gehen« (Deconflicting) und jeweilige Einsätze mitzuteilen, nicht erneuert wurde. USA-General Michael Corella, Kommandeur für die Operationen im Mittleren Osten sagte, »die Russen versuchen, die USA aus Syrien zu vertreiben«. Der russische Präsident Wladimir Putin machte erneut deutlich, Rußland suche keine militärische Konfrontation mit den USA in Syrien, sei »aber auf jedes Szenario vorbereitet«.
Syrien sei Schauplatz einer Konfrontation zwischen den USA und der US-geführten NATO-Allianz gegen Rußland, heißt es in einer Analyse des Zentrums für Studien der Arabischen Einheit von Mitte August. Diese Konfrontation bestehe seit dem Kalten Krieg, der nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges begann. Grund sei der Alleinführungsanspruch der USA, die Welt, ihre Ressourcen und politischen Systeme zu kontrollieren.
Neuer Auftakt des US-amerikanisch-russischen Konflikts seien die Kriege in Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien und Jemen gewesen. Vorläufiger Höhepunkt sei der Krieg in der Ukraine, wo die USA versuchen, das russische Bestreben zur Schaffung einer multipolaren Weltordnung zu verhindern.
Dieser Konflikt weite sich auf andere Kriegs- und Krisenherde der Welt aus, und auch Syrien sei – wie zuvor Afghanistan, Irak, Libyen und Jemen – ein solcher Schauplatz. Beide Mächte versuchten – direkt und durch Stellvertreterkriege – den Einfluß des anderen zu schwächen, selbst für den Preis, das Land ins Chaos zu stürzen.