Macron räumt Fehler ein
Die Polizei steht mehr denn je im Feuer der Kritik
Präsident Emmanuel Macron hofft nicht nur, daß die Unruhewelle im Wesentlichen vorüber ist und man den Blick nach vorn richten kann, er räumt bei der Analyse der Ereignisse auch Fehler ein. So schätzt er mit einer gewissen Portion Selbstkritik ein, daß die Politik zur Renovierung und Sanierung der sozialen Problemviertel in den Vororten »zögerlich und inkonsequent« war. Er spricht aber nicht aus, daß er selbst die Schuld daran trägt, denn als der 2017 von ihm mit einem Plan für die Umgestaltung der Städte beauftragte Jean-Louis Borloo nach einem Jahr sein Programm vorgelegt hat, fegte es Macron mit der Bemerkung, es sei »unrealistisch«, vom Tisch.
Dabei hat Jean-Louis Borloo, der von 1989 bis 2002 Bürgermeister der nordfranzösischen Industrie- und Arbeiterstadt Valenciennes war, dort in der Praxis bewiesen, daß sein Konzept funktionierte. Der Erfolg war seinerzeit so groß, daß der Bürgermeister 2002 als Minister für Stadtentwicklung in die rechte Regierung geholt wurde. Am Dienstag hat die Premierministerin Elisbeth Borne für den Herbst ein neues Programm angekündigt, das auf Vorschläge von Borloo zurückkommen wird.
Macron räumt auch ein, daß er die Arbeit mit der und für die Jugend nach einem ersten Dialog 2017, also ganz zu Beginn seiner ersten Amtszeit, in den späteren Jahren vernachlässigt hat. Unter dem Eindruck der jüngsten Unruhen kündigt er an, daß dieses Feld einen der Schwerpunkte seiner verbleibenden vier Amtsjahre bilden wird.
Der Präsident des Unternehmerverbandes Medef, Geoffroy Roux de Bézieux, der in einem Interview höhnisch den Drogenhandel als »Arbeitgeber Nummer eins« im Pariser Vorstadtdepartement Seine-Saint-Denis bezeichnet und damit dort einen Sturm der Empörung ausgelöst hat, schätzte im selben Interview die durch die Unruhen angerichteten Schäden allein für die Privatwirtschaft auf mindestens eine Milliarde Euro. Um die Spuren und Folgen der Unruhen möglichst bald zu tilgen, kündigte Präsident Macron an, daß das Parlament im Schnellverfahren noch vor der Sommerpause ein Wiederaufbaugesetz verabschieden soll.
Beim Besuch eines Polizeireviers, wo der Präsident das Engagement der Ordnungskräfte lobte, hat er die »Idee« geäußert, die Eltern minderjähriger Unruhestifter und Plünderer für die angerichteten Schäden finanziell zur Rechenschaft zu ziehen. Dabei verwies er darauf, daß das Durchschnittsalter der Täter bei 17 Jahren lag. Der Parteichef der rechten Oppositionspartei der Republikaner, Eric Ciotti, griff diese Idee sofort auf und ergänzte sie durch die Forderung, solchen Familien auch das Kindergeld und andere soziale Hilfszahlungen zu sperren. Wenn Macron ein Gesetz vorlege, das in diese Richtung geht, würden die Republikaner sofort mit dem Regierungslager dafür stimmen.
Auch die aktuelle Debatte in der Nationalversammlung stand weitgehend im Zeichen der jüngsten Unruhen. Dabei forderten die Parteien des linken Bündnisses NUPES eine Polizeireform mit einem ausdrücklichen Verbot der willkürlichen Personenkontrollen, denen oft mehrmals am Tag Jugendliche ausländischer Herkunft unterzogen werden.
Im Namen der Regierung hat Innenminister Gérald Darmanin geleugnet, daß es bei der Polizei rassistische Tendenzen gibt. Das steht allerdings im Widerspruch zu dem am selben Tag veröffentlichten Jahresbericht der Nationalen Kommission für Menschenrechte, aus dem hervorgeht, daß Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit in Frankreich wieder zunehmen, auch und gerade unter Polizisten und Gendarmen.
Unter anderem hat die Kommission festgestellt, daß Jugendliche, denen man ihre ausländische Herkunft ansieht, 20 Mal öfter kontrolliert werden als junge Weiße. Laut dem Bericht werden jährlich zwei Millionen Menschen in irgendeiner Form Opfer von Rassismus, aber vor Gericht kommen dafür bestenfalls 1.000 Täter. Die Parlamentsfraktion des rechtsextremen Rassemblement National versuchte in der Debatte, Jugendliche ausländischer Herkunft als »Drahtzieher« der jüngsten Unruhen hinzustellen und so ihre ausländerfeindliche Ideologie zu untermauern. Dagegen verwahrte sich selbst Innenminister Gérald Darmanin. »Bei den Schuldigen handelt es sind um jugendliche Kriminelle, nicht um jugendliche Ausländer«, sagte er. »Wir wollen keinen Haß gegen die Polizei, aber auch keinen Haß gegen Ausländer.«
Die Aufarbeitung der jüngsten Unruhewelle durch Medien, Politiker und Wissenschaftler ist noch in vollem Gange. Dabei hat Jean-Luc Mélenchon die gewalttätigen Unruhen nicht verurteilt, sondern aufzuwerten versucht, indem er sie als »Revolten« bezeichnete, während die Grünen-Politikerin Sandrine Rousseau das Plündern zu entschuldigen versuchte, indem sie darauf verwies, daß sich »viele Franzosen nicht satt essen können«.
Dagegen sind sich seriöse Analysen weitgehend darin einig, daß neben dem blindwütigen Zerstören und Plündern der einzige politische Aspekt der nach wie vor ungelöste und sich sogar noch verschärfende Konflikt zwischen der Polizei und den Bürgern – und vor allem den jungen Menschen – ist. Damit sei die Polizei zumindest mitverantwortich für die jüngsten Unruhen.
Im Vergleich mit anderen Ländern wird eingeschätzt, daß die französischen Polizisten unzureichend ausgebildet, überdurchschnittlich für die Thesen rechtsextremer Rassisten empfänglich und vorschnell beim Griff zur Waffe sind. Beispielsweise wurde verglichen, daß in Frankreich allein in den letzten zwei Jahren 16 Autofahrer erschossen wurden, weil sie dem Halte-Befehl der Polizei nicht nachgekommen sind.
Bei der Analyse des schlechten Verhältnisses zwischen Polizei und Bürgern wird auch immer wieder an die »Nachbarschaftspolizei« (Police de proximité) erinnert, die 1998 durch die Regierung unter dem Sozialisten Lionel Jospin aufgestellt wurde, um in »sozialen Problemvierteln« ein Verhältnis von Vertrauen und gegenseitiger Achtung mit den Bürgern und vor allem mit den Jugendlichen aufzubauen. Nach dem Wahlsieg der Rechten wurde die Police de proximité 2003 durch den seinerzeitigen Innenminister und späteren Präsidenten Nicolas Sarkozy abgeschafft. Der erklärte martialisch: »Die Aufgabe der Polizei kann es nicht sein, mit Jugendlichen Fußball zu spielen, sondern Kriminelle zu jagen.«
Das mühsam aufgebaute Vertrauensverhältnis zerbrach sehr schnell. Davon zeugten im Herbst 2005 die dreiwöchigen Unruhen von Jugendlichen der sozialen Problemviertel der Vororte. Sie waren ausgelöst worden durch den Tod des 15-jährigen Bouna Traoré und des 17-jährigen Zyed Bennavon, die sich auf der Flucht vor der Polizei in ein Transformatorhäuschen geflüchtet hatten und dort durch einen Stromschlag ums Leben kamen. Die jüngste Unruhewelle nach dem Tod des 17-jährigen Autofahrers Nahel M. durch die Schüsse eines Polizisten macht deutlich, daß sich seit 2005 auf diesem Gebiet nichts geändert hat.