Von Lehrstellen und leeren Stellen
Deutsche Unternehmen tun wenig für die Ausbildung, klagen aber über »Fachkräftemangel«
Der »Fachkräftemangel« ist in aller Munde. So meldete das »Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung« (Kofa) des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) Ende des vergangenen Monats, daß der Fachkräftemangel in Deutschland im vergangenen Jahr »ein Rekordhoch« erreicht hat. Laut Angaben des »Arbeitgeber«-nahen Instituts konnten 2022 mehr als 630.000 offene Stellen für Fachkräfte nicht besetzt werden, weil es »keine Arbeitsuchenden mit der erforderlichen Qualifikation« gab. Dies sei die größte Fachkräftelücke seit Beginn des Beobachtungszeitraums im Jahr 2010 gewesen, so der Bericht des Kofa.
Wenn Fachkräfte fehlen und so den Unternehmen das variable Kapital ausgeht, wäre die logische Konsequenz, die betriebliche Ausbildung attraktiver zu machen und mehr junge Menschen auszubilden. Die Realität ist eine andere. Die Zahl junger Menschen ohne Berufsabschluß hat ein Rekordniveau erreicht.
Laut dem »Ausbildungsbericht 2023« der deutschen Bundesregierung, der in der vergangenen Woche veröffentlicht wurde, sind 2,64 Millionen Menschen in Deutschland zwischen 20 und 34 Jahren ohne Berufsabschluß. Aufgrund der Spätfolgen von Corona, wie »verloren gegangene« Schulabgänger und ein geringeres Ausbildungsangebot, muß davon ausgegangen werden, daß die Zahl in den kommenden Jahren noch weiter steigen wird.
Der zentrale Grund für den kontinuierlichen Anstieg von Menschen ohne Berufsabschluß ist jedoch, daß schlicht die Zahl der Ausbildungsbetriebe rückläufig ist. Gerade einmal 19,1 Prozent der Betriebe in Deutschland bilden noch aus. Ein Prozeß, der sich bereits seit vielen Jahren vollzieht, ohne daß ein Stopp oder eine Umkehrung dieser Entwicklung erkennbar wäre.
Die Kapitalseite zieht sich in der öffentlichen Debatte gerne hinter die Behauptung zurück, daß es »immer weniger Interessenten« an einer beruflichen Ausbildung gäbe. Es gibt jedoch ein großes Potential an Ausbildungsinteressierten, die aber bei der Suche nach einer Ausbildung keine Chance erhalten. Trotz unbesetzter Ausbildungsstellen sind auch im letzten Jahr wieder zahlreiche junge Menschen in den diversen Maßnahmen des »Übergangsbereichs« gelandet. Betroffen sind 239.090 Jugendliche, was einer Steigerung von 6,3 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht.
Fatal an dieser Entwicklung ist, daß im »Übergangsbereich« keine Berufsabschlüsse erworben werden können. Damit werden die Maßnahmen für viele zur Warteschleife oder sie bleiben ganz ohne Berufsausbildung. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, fordert der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) schon seit Jahren eine Ausbildungsplatzgarantie, die von einem umlagefinanzierten Zukunftsfonds flankiert wird.
Für die Wirtschaft ist dies »sozialistisches Teufelswerk«, und man schiebt stattdessen den Jugendlichen die alleinige Verantwortung für das Dilemma zu. Schließlich gebe es ja freie Lehrstellen. Vielen jungen Menschen fehle neben der Bereitschaft für eine betriebliche Ausbildung schlicht die Ausbildungsreife.
Doch wie sieht es mit der Ausbildungsreife der Unternehmen aus? Der Ausbildungsreport der DGB-Jugend kommt hier zu erschreckenden Ergebnissen. Fast 40 Prozent der Auszubildenden wissen selbst im letzten Ausbildungsjahr noch nicht, ob sie von ihrem Betrieb übernommen werden. Etwa ein Drittel der Befragten berichtet über ausbildungsfremde Tätigkeiten. Knapp ein Viertel kann sich nach der Arbeit nicht mehr richtig erholen.
Die Höhe der Ausbildungsvergütung in vielen Branchen und Betrieben ermöglicht kaum ein eigenständiges Leben. Zudem bemängeln 44 Prozent die Qualität der Berufsschulen und 16 Prozent würden eine Ausbildung in ihrem Betrieb nicht weiterempfehlen.
Dies zeigt, es gibt eine Reihe von Stellschrauben, die Qualität und damit die Attraktivität der dualen Ausbildung zu erhöhen, um so nachhaltig den »Fachkräftemangel« zu beheben. Der klügere Teil der Unternehmerschaft hat das begriffen. Der andere – allerdings überwiegende Teil – verfaßt stattdessen weiterhin Presseerklärungen und beklagt öffentlich wirksam die selbstverschuldete Misere.